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Verheerende Zeichen
In Ungarn sind die Behörden unfähig und unwillig, rassistische Verbrechen angemessen zu ahnden, wie Amnesty International in einem aktuellen Bericht dokumentiert. Vor allem Roma sind davon betroffen.
Von Sara Fremberg
"Kis Robi" – "Kleiner Robi" steht an der Außenwand der verkohlten Ruine in der ungarischen Kleinstadt Tatárszentgyörgy, rund 60 Kilometer südlich von Budapest. Einige Meter vor dem Eingang liegen einige weiße Ziegelsteine. Erinnerungen an jene Nacht, in der der fünfjährige Robi aus seinem brennenden Elternhaus nach draußen floh und mit einem gezielten Kopfschuss regelrecht hingerichtet wurde. Er gehörte zu den insgesamt sechs Todesopfern einer Serie brutaler Anschläge auf ungarische Roma zwischen 2008 und 2009. Bis heute sind die ungarischen Behörden unfähig und unwillig, die Verbrechen angemessen zu verfolgen, zu ahnden und dabei insbesondere ihrem rassistischen Charakter Rechnung zu tragen, wie Amnesty International in einem aktuellen Bericht dokumentiert. Opfer und Überlebende warten noch immer auf eine umfassende Aufklärung der Verbrechen und die Verurteilung der Täter.
Rückblick: Es ist die Nacht des 23. Februar 2009. Das Ehepaar Csorba erwacht vom Schreien ihrer Schwiegertochter Renáta, die mit ihrem Mann Robert und drei Kindern im Nachbarhaus wohnt. Schlaftrunken laufen sie nach draußen und sehen, dass das kleine gelbe Haus in Flammen steht. Minuten später finden die beiden ihren Sohn Robert sterbend im Schnee, ihr Enkel Robi liegt tot neben der Eingangstreppe. Eine Kugel hat sein Gesicht entstellt.
Robis Schwester, die sechsjährige Bianca, hat Glück. Auch sie flieht vor den Flammen nach draußen und wird von mehreren Kugeln getroffen. Doch es gelingt ihr, sich zu verstecken. Während die Mörder fluchend nach ihr suchen, schleicht sich das verletzte Mädchen durch das Gestrüpp an ihnen vorbei und schleppt sich in den Wald. Ihre Mutter Renáta entkommt den Mördern mit ihrem jüngsten Sohn Marty durch das Fenster.
Eine Nachbarin hört die Schüsse. Sie alarmiert Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen. Als diese nach einer Stunde am Tatort eintreffen, können sie Robert nicht mehr retten. Er ist verblutet. Vor dem Haus und im Körper der kleine Bianca finden die Roma bei Tagesanbruch die verwendeten Schrotkugeln. Die Polizeibeamten weigern sich, die Kugeln als Beweismittel anzuerkennen und zu sichern. Sie machen einen Elektrizitätsbrand und die folgende Explosion für die Ereignisse verantwortlich. Roberts Wunden seien wahrscheinlich von einem herabstürzenden Balken oder Nägeln verursacht worden. "Sie haben auf die Fuß- und Handabdrücke der Täter im Schnee uriniert, um sie zu verwischen. Sie haben uns einfach nicht geholfen", erzählt Csadas Csorba, Roberts Vater.
Noch in derselben Nacht bittet Familie Csorba die EU-Abgeordnete Viktória Mohácsi um Hilfe. Diese fordert die Nationale Ermittlungsbehörde an, um den Fall zu übernehmen. Als die Beamten kurze Zeit später am Tatort eintreffen, finden sie sowohl die Flaschen, die für die Molotowcocktails verwendet wurden, als auch eine Kugel und mehrere Patronen. Noch am selben Tag bestätigt die Autopsie der beiden Leichen die Schüsse als Todesursache. Der Polizeibericht muss geändert werden. Der Vorfall von Tatárszentgyörgy ist kein Einzelfall. Das European Roma Rights Center (ERRC), Amnesty International und andere Nichtregierungsorganisationen sprechen von knapp 50 Angriffen auf Roma in Ungarn in den vergangenen zwei Jahren. Gleichzeitig gehen sie von einer hohen Dunkelziffer von Taten aus, die gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden.
Die wachsende Zahl rassistisch motivierter Gewaltverbrechen geht einher mit dem Aufstieg der rechtsextremistischen Partei Jobbik und einem allgemeinen Rechtsruck der ungarischen Politik. Zu Jobbiks Parteiprogramm gehört neben der Wiederherstellung eines "Großungarn" und dem Kampf gegen das "jüdische Kapital" auch ein offen progagierter Antiziganismus.
Jobbiks paramilitärische Schutztruppe, die Ungarische Garde, marschiert nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler durch Städte und Gemeinden, in denen viele Roma wohnen – besonders häufig in Tatárszentgyörgy. Dort ruft sie die "ethnischen Ungarn" dazu auf, sich gegen die Roma zu verteidigen. Gábor Vona, Parteichef von Jobbik und Vorsitzender der Ungarischen Garde, schlug bereits zur "Lösung der Zigeunerfrage" vor, die Roma in Ghettos zu sperren, sogenannte "Siedlungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung". Bei den Parlamentswahlen im April 2010 erhielt Jobbik fast zwölf Prozent der Stimmen.
Als drittstärkste Kraft im ungarischen Parlament unterstützt die Partei die autoritäre, nationalistische Politik der rechtskonservativen Fidesz-Regierung. Diese schweigt dazu und macht sich ihrerseits viele der Jobbik-Standpunkte zu eigen. Hauptverlierer dieser politischen Entwicklung sind dabei die Roma. Dies wurde unter anderem deutlich, als die öffentlich-rechtlichen Sender im Oktober 2010 per Gesetz gezwungen wurden, einen Wahlwerbespot der Jobbik-Partei zu senden, der die Roma als "Parasiten der Gesellschaft" bezeichnete. Die Sender hatten die Ausstrahlung zuvor aus ethischen Gründen verweigert.
Nach dem Attentat gründen die Einwohner von Tatárszentgyörgy eine Bürgerwehr, die nachts bis in die frühen Morgenstunden insbesondere durch die Roma-Viertel patrouilliert. Unter den Männern der Schutztruppe befinden sich sowohl Roma als auch Nicht-Roma. "Die Nazis versuchen Roma und Ungarn zu spalten und sprechen von einem Krieg. Deshalb haben wir uns bewusst gegen eine eigene Roma-Patrouille entschieden", sagt György Jakáb, Robis Großvater.
Am 21. August 2009 verhafteten Beamte der Nationalen Ermittlungsbehörde vier Männer in Debrecen. Die Morde von Tatárszentgyörgy sind jedoch nur ein Teil der Verbrechen, die man ihnen zur Last legt. Die 90-seitige Anklageschrift, die die Staatsanwaltschaft Pécs im vergangenen September vorlegte, macht sie für eine Serie von neun Angriffen auf Roma-Siedlungen verantwortlich. In ganz Ungarn suchten sie sich bevorzugt Häuser aus, die in der Nähe von Autobahnen lagen – wie die Wohnung der Familie Csorba. Die Täter warfen Molotowcocktails in die Häuser ihrer Opfer und eröffneten das Feuer auf diejenigen, die fliehen wollen. Robis Großeltern, die in jener Nacht ihn und seinen sterbenden Vater fanden, haben bis heute weder psychologische Betreuung erhalten, noch wurden sie angemessen zu möglichen Entschädigungszahlungen beraten.
Amnesty International beklagt, dass dies auf die Mehrzahl der von den Übergriffen der vergangenen Jahre betroffenen Roma zutrifft. Mängel während der Ermittlungs- und Strafverfahren führten dazu, dass es bisher in nur einem einzigen Fall eine Verurteilung gab. Staatsanwälte und Richter ließen zudem in vielen Fällen den rassistischen Charakter der Angriffe bewusst außer Acht. Amnesty sieht darin die Hauptursache des Problems. Verbrechen gegen eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung weisen besondere Charakteristika auf, die bei Ermittlungen und Strafverfolgung berücksichtigt werden müssen. Amnesty fordert den ungarischen Staat daher auf, Polizisten, Staatsanwaltschaften und Gerichte entsprechend zu schulen, um sie in die Lage zu versetzen, die Verbrechen angemessen untersuchen und bewerten zu können.
Journalisten, Opfer und Hinterbliebene beklagen, dass seit der Anklageerhebung gegen Robis Mörder kaum neue Informationen an die Öffentlichkeit gelangten. Das lässt viele Fragen offen und Raum für Spekulationen. Die Professionalität der Durchführung legt nahe, dass die Morde von langer Hand geplant wurden und die Täter nicht allein agierten. Umgekehrt verhindert die mangelhafte Aufklärung eine angemessene Strafverfolgung. Doch solange solche Taten kaum verfolgt werden, ist das Interesse der lokalen Behörden an einer umfassenden Aufklärung oft gering. Die Unerfahrenheit und Gleichgültigkeit von Polizei und Justiz gegenüber der mörderischen Diskriminierung, das offizielle Schweigen und die mangelhaften Informationen zum Stand der Anklage senden verheerende Zeichen an die ungarische Gesellschaft.
Wie viel ist das Leben eines Rom wert, wenn solche Gewaltverbrechen nicht umfassend und zügig verfolgt und geahndet werden? Den Hinterbliebenen geht es um Antworten. "Wir wollen wissen, was passiert ist. Wer hat die Mörder bezahlt? Wer hat sie angestiftet?", sagt Ildiko Jakáb, Robis Großmutter. Familie Csorba fühlt sich im Stich gelassen. Solange die Täter nicht offiziell verurteilt und bestraft und ihre Taten restlos aufgeklärt sind, solange finden sie keine Ruhe und leben in Angst vor den nächsten Übergriffen.
Die Autorin arbeitet in der Pressestelle der deutschen Amnesty-Sektion.