Aktuell 11. Juni 2018

Foltervorwürfe nach Polizeieinsatz gegen Schulproteste

Zeichnung einer Figur mit Mütze und Jacke, auf der "Polizei" steht

Istanbuler Schülerinnen und Schüler wollten friedlich für bessere Bildung protestieren. Die Polizei stoppte sie. Laut Augenzeugenberichten kam es dabei auch zu Misshandlungen und Folter durch Polizeikräfte. 

Rund 50 Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen und Schulabsolventinnen und -absolventen versammelten sich am 8. Juni 2018 im Istanbuler Stadtteil Kadıköy, um am letzten Tag des Schuljahres gegen die "schlechte Qualität" des türkischen Bildungssystems zu protestieren. 

Augenzeugenberichten zufolge versammelten sich auch etwa 50 Polizeikräfte in Uniform und in Zivil vor dem Opernhaus in Kadıköy, wo die Demonstration stattfinden sollte, um die Schülerinnen und Schüler an einem Protestmarsch zu hindern. 

Festnahme Minderjähriger

Als die Demonstrierenden begannen, Parolen zu rufen, griff die Polizei ein und nahm schließlich 20 Personen fest, darunter acht Minderjährige sowie zwei Fotojournalisten, die über den Protest berichteten. 

In den sozialen Medien veröffentlichte Videos zeigen, wie Männer in Zivil, bei denen es sich scheinbar um Polizisten handelt, die Demonstrierenden zu Beginn des Protestmarsches angreifen. Daraufhin schreiten auch uniformierte Polizeikräfte ein und nehmen Demonstrierende mithilfe der  Zivilpolizisten fest. 

Nach Berichten von Augenzeuginnen und Augenzeugen, Rechtsbeiständen der Demonstrierenden und einem Teilnehmer der Protestkundgebung zerrten Polizeikräfte Demonstrierende auf die Straße und fesselten ihre Hände hinter dem Rücken mit Handschellen. 

Schläge auf den Kopf

Wie die Rechtsbeistände und der Demonstrant im Gespräch mit Amnesty International berichteten, wurden inhaftierte Schülerinnen und Schüler in einem Polizeibus, in dem sie zunächst festgehalten wurden, mit Schlagstöcken und Handschellen auf den Kopf und in den Augenbereich geschlagen. Ihre Hände seien dabei mit Handschellen gefesselt gewesen. 

Auch Videomaterial aus den sozialen Medien, scheint zu zeigen, wie die Polizei in einem Polizeibus wiederholt mit Schlagstöcken auf festgenommene Demonstrierende einschlägt. 

Den Rechtsbeiständen zufolge erlitten alle inhaftierten Demonstrierenden blaue Flecken am Körper, einige von ihnen auch Kopfverletzungen und Wunden an den Knien. Ein Demonstrant soll schwere Quetschungen am Arm davongetragen haben. Mehrere Videoclips auf Social Media sowie Fotos, die Amnesty International von Rechtsbeiständen der Demonstrierenden erhalten hat, bestätigen, dass die Inhaftierten Verletzungen erlitten haben. 

Die Polizei beleidigte die Demonstrierenden und drohte ihnen unter Schlägen im Polizeibus, ihnen die Arme und Beine zu brechen. Einem der Festgenommenen zufolge wurden sie etwa vier Stunden lang im Polizeibus festgehalten. 

Nach einem Krankenhaus-Aufenthalt wurden erwachsene Demonstrierende zur Polizeistation İskele in Kadıköy gebracht, während die acht Minderjährigen in eine Kinderabteilung der Sicherheitsdirektion gebracht wurden. Sie alle wurden schließlich am 9. Juni um etwa 4:30 Uhr freigelassen. 

Strafanzeige wegen Folter

Rechtsbeistände teilten Amnesty International mit, dass die Schülerinnen und Schüler nach Erhalt der notwendigen medizinischen Berichte Strafanzeige wegen Folter gegen die Polizistinnen und Polizisten erstatten werden. 

Folter und andere Misshandlungen verstoßen sowohl gegen türkisches Recht als auch gegen das Völkerrecht. Die türkischen Behörden müssen unverzüglich eine Untersuchung der Vorwürfe wegen exzessiver Gewaltanwendung, Folter und anderer Misshandlungen durch Polizeikräfte durchführen. Die verantwortlichen Polizistinnen und Polizisten müssen in einem fairen Verfahren zur Verantwortung gezogen werden. 

Restriktives Versammlungsgesetz

Wie Rechtsbeistände Amnesty International berichteten, werden die 20 Protestierenden und zwei Journalisten beschuldigt, gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz verstoßen zu haben, das aufgrund seines restriktiven Charakters und seiner willkürlichen Anwendung ein grundlegendes Hindernis für die Gewährleistung des Rechts auf friedliche Versammlung in der Türkei darstellt. Mindestens drei der Protestierenden werden auch der vorsätzlichen Körperverletzung und des Widerstands gegen Polizeibeamte beschuldigt. 

Mit der Teilnahme an dem Protest haben die Schülerinnen und Schüler und Schulabsolventinnen und -absolventen ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung ausgeübt, wie sie sowohl türkisches Recht als auch das Völkerrecht gewähren. Amnesty International fordert die Behörden auf, Demonstrierende nicht wegen der Teilnahme an friedlichen Protesten strafrechtlich zu verfolgen und dafür Sorge zu tragen, dass das Recht auf friedliche Versammlung aller, einschließlich der Teilnehmenden am Bildungsprotest, gewahrt und respektiert wird. 

Weitere Folter- und Misshandlungsvorwürfe

Ähnliche Folter- und Misshandlungsvorwürfe wurden von Studierenden der Universität erhoben, die wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" strafrechtlich verfolgt werden, weil sie am 19. März einen friedlichen Protest gegen den Militäreinsatz der Türkei im syrischen Afrin auf dem Campus der Boğaziçi Universität in Istanbul veranstaltet hatten. 

Bei einer Gerichtsverhandlung am 6. Juni berichteten drei Studierende dem Gericht, dass sie bei ihrer Festnahme und in Polizeigewahrsam Opfer von Folter und anderen Misshandlungen geworden seien. Die Studierenden gaben an, dass Polizistinnen und Polizisten Studierende unter anderem auf den Boden gezerrt, ihnen die Arme verdreht und damit gedroht hätten, diese zu brechen, die Köpfe der Studierenden an die Fenster der Polizeifahrzeuge geschlagen und sie getreten und geschlagen hätten.

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