Aktuell Deutschland 21. Oktober 2013

Amnesty fordert Flüchtlings-Regelung im Koalitionsvertrag

Aktion von Amnesty International und Pro Asyl auf der Spree in Berlin am 28.09.2011

Aktion von Amnesty International und Pro Asyl auf der Spree in Berlin am 28.09.2011

19. Oktober 2013 - In der kommenden Woche sollen die Verhandlungen zwischen Union und SPD über die Bildung der neuen Bundesregierung beginnen. Die deutsche Sektion von Amnesty International verlangt, dass der Umgang mit Flüchtlingen im Koalitionsvertrag klar geregelt wird. Deutschland müsse deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen, fordert Generalsekretärin Selmin Çalışkan im Interview der Deutschen Presse-Agentur (DPA).

Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion: Selmin Caliskan (2013)

Die neue Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion: Selmin Caliskan

DPA: Nach dem Flüchtlingsdrama vor Lampedusa gibt es in Deutschland und Europa neue intensive Debatten über die Asylpolitik. Wie verfolgen Sie die Diskussion?

 

Selmin Çalışkan: Uns macht große Sorge, wie das Thema zur Stimmungsmache benutzt wird. Ich finde, die Debatte ist sehr unfair und führt zu sozialem Unfrieden in Deutschland. Das Thema Flüchtlingsschutz muss in den Koalitionsvertrag.

Was genau soll da drin stehen?

Es muss drin stehen, dass wir uns nicht immer weiter gegen Flüchtlinge abschotten und uns an deren Tod mitschuldig machen. Deutschland hat als größte wirtschaftliche Macht in der EU viel zu sagen. Das muss die Regierung nutzen, um voranzugehen und Flüchtlinge zu schützen. Es fehlt das gemeinsame Verantwortungsgefühl in der EU. Nicht erst jetzt, wo wir wissen, dass in zehn Tagen 400 Leute ertrunken sind. Das war schon in den ganzen letzten Jahren so. Es sind tausende Menschen ertrunken. Bei jeder neuen Tragödie wird die Diskussion neu aufgezäumt. Und dann passiert wieder nichts.

Sollte Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher?

Auf jeden Fall. Vor allen Dingen sind wir dafür, das Resettlement-Programm aufzustocken. Das ist ein legaler Weg, wie Flüchtlinge hier herkommen können, ohne dass sie diese maroden Boote besteigen müssen. Bislang gibt es pro Jahr nur 300 Resettlement-Plätze in Deutschland. Das ist nichts.

Resettlement - das heißt, die dauerhafte Neuansiedlung "besonders verletzlicher" Flüchtlinge. Wie viele Plätze sollen es werden?

Wir legen uns da nicht fest. Aber die Zahl muss deutlich nach oben gehen. Nur zum Vergleich: Im vergangenen Jahr wurden weltweit 172 000 Resettlement-Plätze gebraucht. 50 000 haben die USA bereitgestellt, alle europäischen Staaten zusammen nur 4500.

Was muss sonst noch passieren?

Die Regierung muss im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge viel mehr Stellen zur Bearbeitung von Asylanträgen schaffen. Und zwar schnell - denn die Flüchtlinge kommen. Außerdem sollte die Regierung ihren Ermessensspielraum großzügig nutzen. Man sollte zum Beispiel den Familienbegriff beim Nachzug ausweiten, damit er auch für Großeltern gilt oder für volljährige Kinder. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollten nicht wie Erwachsene behandelt werden im Asylverfahren. Auch das Flughafenverfahren muss abgeschafft werden.

Hat Deutschland hier eine besondere Verantwortung?

Ja. Deutschland ist reich und kann locker mehr Asylbewerber aufnehmen als andere Länder. Im Bosnien-Krieg haben wir 400 000 Menschen aufgenommen. Und die meisten sind auch zurückgegangen. Entgegen aller Propaganda kommen die Menschen nicht, weil sie denken, hier ist das Land, wo Milch und Honig fließt. Sondern sie sind in Not und müssen sich und ihre Familien vor bewaffneten Konflikten in Sicherheit bringen. Die meisten gehen danach zurück in ihre Heimat.

Die Regierung hält dagegen, Deutschland nehme bereits mehr Flüchtlinge auf als andere EU-Staaten, zumindest in absoluten Zahlen.

Das ist nur ein Abwälzen der Verantwortung. Wenn man die Einwohnerzahl betrachtet, ist Deutschland im europäischen Vergleich auch nicht auf Platz eins, sondern auf Platz elf.

Die EU-Staaten wollen die Überwachung des Mittelmeers verstärken. Ist das der richtige Weg?

Nein. Je höher man die Mauern an Europas Grenzen baut, umso mehr Menschen werden sterben. Denn die Flüchtlinge werden weiter kommen, weil es so viel Not gibt. Damit muss Europa umgehen. Es geht auch nicht, dass Menschen bestraft werden, die Flüchtlinge retten. Fischer, die auf ein Flüchtlingsboot stoßen, dürfen nicht helfen, sondern müssen auf die Grenzpolizei warten. Sie müssen stundenlang zusehen, wie Menschen ertrinken. Das macht mich wütend.

Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de

Weitere Informationen:

Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel: Europa muss sich für Flüchtlinge öffnen!

Lesen sie hier den Artikel "Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer - wie viele Menschen müssen noch sterben?"

Bundestagswahl 2013: Unsere Forderungen an die neue Bundesregierung

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