Aktuell Russische Föderation 05. Mai 2009

Zur Menschenrechtslage in Russland

"Im Laufe des Berichtsjahres erfuhr amnesty international von der Verhaftung von ungefähr 200 Personen, die gewaltlos ihre Menschenrechte ausgeübt hatten. Mehr als 30 von ihnen wurden ohne wirkliche medizinische Gründe in psychiatrische Kliniken eingewiesen....Im Berichtszeitraum arbeitete amnesty international für ungefähr 500 Gefangene, die entweder adoptiert waren oder deren Fälle im Hinblick auf eine mögliche Adoption untersucht wurden."

So heißt es im Jahresbericht von Amnesty International im Jahr 1981 zur Sowjetunion. Die Menschenrechtslage in der Russischen Föderation heute ist mit der Lage 1980 nicht vergleichbar. Mit der "Wende" Ende der achtziger Jahre verschwanden nicht nur die berüchtigten sozialistischen Straflager, die als das System Gulag in die Geschichte eingegangen sind. Formal wurden demokratische Institutionen errichtet. Doch die Euphorie der demokratischen Umgestaltung im Zeichen von "Glasnost" und "Perestroika" ist längst erlahmt. Unbestreitbare Schwierigkeiten beim Umgestaltungsprozess wurden dazu genutzt, schon erreichte demokratische Freiheiten wieder zu beschneiden und eine positive Entwicklung in der Zukunft zu erschweren. Es gibt keine wirksame unabhängige Kontrolle der zunehmend zentralisierten Macht: Kein unabhängiges Parlament, keine unabhängigen Gerichte und keine von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommenen unabhängigen Medien. Dass die Arbeit in den verbleibenden kleinen Freiräumen gefährlich sein kann, mussten nicht zuletzt die unabhängige Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Anna Politkowskaja und der Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow erfahren. Beide wurden nach vielen Einschüchterungsversuchen in Moskau erschossen – Politkowskaja im Oktober 2006, Markelow im Januar 2009. Wir erwarten von dem seit 2008 amtierenden Präsidenten der Russischen Föderation Dmitri Medwedjew, dass er seiner Ankündigung nachkommt, für mehr Rechtsstaatlichkeit in Russland zu sorgen. Aber bisher deutet wenig auf eine Verbesserung der Lage hin:

Einschränkung der Meinungs-, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Insbesondere Fernseh- und Radiostationen sind in Russland staatlich kontrolliert und bieten unabhängiger Berichterstattung und Kommentierung praktisch keinen Raum. Oppositionelle Meinungen finden so keine Verbreitung. Unabhängige Informationen liefern nur wenige Zeitungen mit geringer Auflage und das Internet. Journalisten, die diese Medien nutzen, werden schnell Opfer von Einschüchterungsversuchen und geraten – wie nicht zuletzt der Fall Anna Politkowskaja zeigt – sogar in Lebensgefahr.
Auch kritische Äußerungen im öffentlichen Raum sind in Russland nicht erwünscht. Immer wieder werden öffentliche Demonstrationen mit fadenscheinigen Begründungen verboten; gegen oppositionelle Demonstranten wird nicht selten gewaltsam vorgegangen, oder sie werden gegen Übergriffe staatstreuer Gegendemonstranten nicht hinreichend geschützt. Nichts anderes gilt für die Angehörigen diskriminierter Minderheiten wie Lesben und Schwule, wenn sie öffentlich für ihre Rechte eintreten. Die Bildung von politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen wurde in den vergangenen Jahren erschwert.
Unter dem Vorwurf, unpatriotisch zu sein und als "Agenten des Auslands" nicht genügend für die russischen Interessen einzutreten, werden insbesondere Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen diffamiert. Das im April 2006 in Kraft getretene Gesetz über Nichtregierungsorganisationen lähmt ihre Arbeit durch eine Vielzahl bürokratischer Erschwernisse und gibt den staatlichen Behörden umfassende Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten. Unter unscharfen Voraussetzungen kann gegen Nichtregierungsorganisationen bis hin zur Schließung vorgegangen werden.

Keine unabhängigen Gerichte

Die Kontrolle staatlicher Gewalt durch eine unabhängige Justiz findet praktisch nicht statt. Umgekehrt wird die Justiz vielfach als verlängerter Arm der Macht wahrgenommen, die sie eigentlich kontrollieren müsste: So wurden kurz nach der Jahrtausendwende mehrere Wissenschaftler, die im Zeichen von Glasnost allgemein zugängliche Informationen auch international verbreitet hatten, wegen Landesverrats zu mehr als zehn Jahren Haft verurteilt. Das Vorgehen gegen den Ölkonzern Jukos und seinen Vorstandsvorsitzenden Michail Chodorkowskij, der in einem ersten Verfahren zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden war, ist das wohl prominenteste Beispiel des selektiven Vorgehens einer politisch motivierten Justiz gegen vermeintliche oder tatsächliche Gegner des Kreml.
Andererseits versagen Staatsanwaltschaften und Gerichte bei ihrer Aufgabe, Menschenrechte zu schützen und Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die Straflosigkeit auch in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen gehört in der Russischen Föderation leider noch zum Alltag. Wiederholt hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass der russische Staat die Menschenrechte auch dadurch verletzt, dass die Justiz die Täter unzureichend verfolgt.

Rassismus und Rechtsextremismus

Seit vielen Jahren muss sich Amnesty International mit Rassismus und Rechtsextremismus in der Russischen Föderation befassen. Neben nicht slawisch aussehenden Studierenden werden vor allem aus den südlichen Republiken der früheren UdSSR zugewanderte Arbeitsmigranten oft als "Schwarze" diskriminiert. Zu Angriffen kommt es vor allem in Großstädten wie Moskau, St. Petersburg aber auch Woronesch. Daneben richtet sich die Gewalt auch gegen Menschen, die sich für die Menschenrechte und gegen rechtsextreme Gewalt engagieren. Nach den Zahlen des renommierten "Sova-Instituts" hat sich die Zahl derer, die bei rassistisch und rechtsextremistischen Übergriffen um ihr Leben gekommen sind, seit 2003 von 20 auf 97 im Jahr 2008 mehr als vervierfacht. Die Dunkelziffer liegt vermutlich viel höher. In der Öffentlichkeit gibt es dagegen kaum Proteste und auch die Strafverfolgungsbehörden scheinen erst unter dem Eindruck des enormen Anstiegs dieser Taten dazu überzugehen, rassistisch-extremistische Motive wenigstens in einzelnen Fällen deutlicher zu benennen und solche Taten nicht lediglich als "Rowdytum" zu ahnden.

Nach wie vor schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus

Nach den zwei Kriegen in Tschetschenien, in deren Umfeld praktisch jede Familie der kleinen Republik im Nordkaukasus Angehörige durch willkürliche Tötungen, Folter und "Verschwindenlassen" verlor, hat sich die Lage dort nur scheinbar beruhigt. Wer Kritik an den Maßnahmen äußert, die von Präsident Ramsan Kadyrow zum Wiederaufbau des Landes verordnet werden, droht weiter in inoffiziellen Gefängnissen zu "verschwinden" und dort Opfer von Folter und Mord zu werden. Die dafür Verantwortlichen gehen nach wie vor straffrei aus.
In den ehemals friedlicheren Nachbarrepubliken Inguschetien, Dagestan, Nord-Ossetien und Kabardino-Balkarien hat sich die Lage in den Jahren 2007 und 2008 dramatisch zugespitzt. Hier nehmen Anschläge, willkürliche Festnahmen und politische Morde zu. Amnesty International erhält viele Berichte über Folterungen von Verdächtigten gleich nach ihrer Inhaftierung. Die dabei erlangten "Geständnisse" und Zeugenaussagen sind oft Grundlage für die anschließende Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen, ohne dass in den Strafverfahren den Foltervorwürfen hinreichend nachgegangen wird.

Forderungen von Amnesty International an die Regierung der Russischen Föderation:

  • eindeutige, öffentliche Verurteilung und unverzügliche Aufklärung von allen Gewaltakten, die gegenüber Journalisten, Anwälten, Menschenrechtsverteidigern oder Oppositionellen begangen werden;
  • die Unabhängigkeit der Gerichte zu stärken und dafür zu sorgen, dass in allen Verfahren rechtstaatliche Grundsätze eingehalten werden;
  • öffentliche Verurteilung von Rassismus und Diskriminierung sowie Entwicklung und Umsetzung eines wirksamen Programms gegen Rassismus;
  • Beendigung der Straflosigkeit von Folter, insbesondere im Nordkaukasus;
  • Überarbeitung der Gesetzgebung zu Nichtregierungsorganisationen mit dem Ziel, ihre unabhängige Arbeit zu erleichtern.

Werden Sie aktiv! Setzen Sie sich für den Menschenrechtsverteidiger Aleksei Sokolow ein! Er wurde am 13. Mai 2009 festgenommen und läuft Gefahr, gefoltert oder in anderer Weise misshandelt zu werden.

Beteiligen Sie sich jetzt an unserer Urgent Action für Aleksei Sokolow!

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