Häftling begeht Selbstmordversuch

Russland

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Der tschetschenische Häftling Timur Tangiyev hat am 15. Juli versucht, sich das Leben zu nehmen. Er soll in Haft gefoltert worden sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Verurteilung für ungültig erklärt. Der Oberste Gerichtshof der Tschetschenischen Republik überprüft derzeit seinen Fall.

Appell an

LEITER DER STRAFVOLLZUGSBEHÖRDE (FSIN),
Genadiy A. Korniyenko,
ГСП-1, 14 Zhitnaya,
119991 Moscow, RUSSISCHE FÖDERATION.
(Anrede: Dear Director / Sehr geehrter Herr Korniyenko)
Fax: (00 7) 495 982 1950
E-Mail: über die Webseite: http://фсин.рф/obrat/index.php
(nur auf Russisch)

LEITER DER ERMITTLUNGSBEHÖRDE
Aleksandr Ivanovich Bastrykin
Investigative Committee of the Russian Federation
Tekhnicheskii pereulok, d.2
105005 Moscow, RUSSISCHE FÖDERATION
(Anrede: Dear Chairman / Sehr geehrter Herr Vorsitzender)
Fax: (00 7) 499 265 90 77

Sende eine Kopie an

GENERALSTAATSANWALT
Yuriy Ya. Chaika
15A Bolshaia Dmitrovka Street
125993 Moscow, RUSSISCHE FÖDERATION
(Anrede: Dear Prosecutor General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt)
Fax: (00 7) 495 692 17 25
E-Mail: prgenproc@gov.ru

BOTSCHAFT DER RUSSISCHEN FÖDERATION
S. E. Herrn Vladimir M. Grinin
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@Russische-Botschaft.de

Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 29. August 2014 keine Appelle mehr zu verschicken.

Amnesty fordert:

FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Stellen Sie bitte den Schutz von Timur Tangiyev in der Haftanstalt Nr. 1 sicher.

  • Führen Sie bitte sofort eine unabhängige und wirksame Untersuchung zu den von Timur Tangiyev 2003 und aktuell erhobenen Vorwürfen über Folter und anderweitige Misshandlungen durch.

  • Ich möchte Sie daran erinnern, dass unter Folter erhaltene Beweismittel vor Gericht nicht zulässig sind. Stellen Sie bitte sicher, dass sein Prozess in jeder Hinsicht den internationalen Standards für ein faires Verfahren entspricht.

PLEASE WRITE IMMEDIATELY

  • Calling on the authorities to ensure Timur Tangiyev’s safety and security while he is held at the detention facility no.1 in Grozny.

  • Urging them to implement impartial and effective investigations into his allegations of tortue and other ill-treatment, at present and back in 2003, which take place without any further delay.

  • Reminding them that evidence extracted under torture is not admitted in court, and urging them to ensure that the hearing on his case is fully compliant with international standards of fair trial.

Sachlage

Der Tschetschene Timur Tangiyev wird derzeit in der provisorischen Haftanstalt Nr. 1 in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny in Einzelhaft festgehalten. Am 15. Juli hat er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Dies ist bereits sein dritter Selbstmordversuch seit seiner Verlegung in die Haftanstalt im März 2014. Das erste Mal schnitt er sich die Pulsadern im April auf, konnte jedoch wiederbelebt werden. Anschließend musste er zur Bestrafung 15 Tage in einer Einzelhaftzelle verbringen. Am 19. Juni versuchte er dann erneut, sich das Leben zu nehmen. In allen drei Fällen gab Timur Tangiyev an, von Mitarbeiter_innen der Haftanstalt bedroht und eingeschüchtert worden zu sein. Er erklärte, dass einige von ihnen ihn bereits 2003 gefoltert hätten, als sie als Polizeibeamt_innen in einer Haftanstalt arbeiteten, die als "ORB-2" bekannt war.

Timur Tangiyev war im April 2003 festgenommen worden. Er und seine Verwandten, die ihn kurz nach seiner Festnahme sahen, geben an, dass er gefoltert worden sei. Im Oktober 2003 versuchte Timur Tangiyev eine schriftliche Aussage zurückzuziehen, die er zur Zeit seiner Festnahme gemacht hatte. Darin hatte er zugegeben, einer bewaffneten Gruppierung angehört zu haben. Er erklärte, dass das Geständnis unter Folter erzwungen worden sei. Der zuständige Richter ignorierte seine Vorwürfe jedoch, ohne diese angemessen zu überprüfen. Im Oktober 2004 sprach der Oberste Gerichtshof der Tschetschenischen Republik Timur Tangiyev wegen Mordes, Zugehörigkeit zu einer illegalen bewaffneten Gruppierung, illegalen Waffenbesitzes und Autodiebstahls schuldig und verurteilte ihn zu 24 Jahren Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte im Dezember 2012 fest, dass Timur Tangiyev unter Folter zur Abgabe des Geständnisses gezwungen worden war, dass die russischen Behörden es versäumt hatten, seinen Foltervorwürfen nachzugehen, dass er ein unfaires Verfahren erhalte und das russische Gericht Beweismittel gegen ihn verwendet hatte, die unter Folter erzwungen worden waren. Im April 2014 wurde der Fall Timur Tangiyev vor dem Obersten Gerichtshof der Tschetschenischen Republik wieder aufgenommen. Das Wiederaufnahmeverfahren läuft derzeit noch.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Timur Tangiyev befindet sich seit April 2003 in Haft. Grund für seine Inhaftierung war die mutmaßliche Zugehörigkeit zu einer illegalen bewaffneten Gruppierung, die gegen die russischen Behörden kämpft. Amnesty International und weitere russische und internationale Menschenrechtsgruppen haben seitdem zahlreiche Fälle von willkürlichen Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen, sowie außergerichtlichen Hinrichtungen in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus dokumentiert. Amnesty International hat zudem zahlreiche Fälle von Folter und anderen Misshandlungen in der Haftanstalt "ORB-2" in Grozny dokumentiert, in der Timur Tangiyev zu dieser Zeit ebenfalls festgehalten wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seit Ausbruch des sogenannten "zweiten Tschetschenienkrieges" im Jahre 1999 mehr als 200 Urteile erlassen, in denen russische Behörden für Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken im Nordkaukasus verantwortlich gemacht werden.

Laut der Frau von Timur Tangiyev, die seine Festnahme im April 2003 mitangesehen hatte, stürmten mehrere mit Masken vermummte Männer in ihr Haus, schlugen und traten ihren Mann und traktierten ihn mit den Griffen ihrer Maschinengewehre. Als seine Mutter Timur Tangiyev in der Haft besuchte, konnte sie Blutergüsse auf seiner Brust, seinem Bauch und seinem Rücken, sowie Brandwunden von Zigaretten an seinem ganzen Körper sehen. Eine Narbe an seiner Stirn eiterte und seine Fingernägel waren sichtbar blutunterlaufen, außerdem hatte er stark an Gewicht verloren.

Im Oktober 2003 beklagte sich Timur Tangiyev über Folterungen und versuchte sein erzwungenes "Geständnis" zurückzuziehen. Er sagte, dass man ihn anschließend mit Elektroschocks gefoltert habe. Weder von den Strafverfolgungsbehörden noch von einem Gericht wurde eine angemessene und wirksame Untersuchung zu den von ihm erhobenen Vorwürfen über Folter und anderer Misshandlungen durchgeführt. Seine Anzeigen wurden stattdessen als "unbegründet" abgelehnt. Am 5. Oktober 2004 wurde Timur Tangiyev zu 24 Jahren Haft verurteilt. 2005 wurde sein Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weitergeleitet.

Im Dezember 2012 erließ der EGMR ein Urteil im Fall von Timur Tangiyev, in dem der Gerichtshof befand, dass die russischen Behörden gegen Timur Tangiyevs Recht auf ein faires Verfahren sowie gegen das absolute Folterverbot verstoßen haben. Der Gerichtshof stellte fest, dass Timur Tangiyev "Verletzungen am Kopf sowie Wunden erlitten hat, die sich entzündet haben" und "seinem Körper mit Zigaretten und Streichhölzern Brandwunden zugefügt wurden". Er schlussfolgerte, dass diese Misshandlungen, die Folter gleichkommen, "dazu dienen sollten, den Beschwerdeführer zu erniedrigen, ihn gefügig zu machen und ihn dazu zu bringen, Straftaten zuzugeben". Weiterhin entschied der Gerichtshof, dass die Behörden keine wirksame Untersuchung der Misshandlungsvorwürfe durchführten und dass das Verfahren durch die Verwendung auf diese Weise erhaltener Beweismittel als unfair zu betrachten ist. Am 16. Februar 2014 ordnete der Oberste Gerichtshof Russlands eine Überprüfung des Urteils gegen Timur Tangiyev an.

Laut der Mutter von Timur Tangiyev wurde dieser am 15 Juli direkt nach einer Anhörung in die medizinische Abteilung der Haftanstalt gebracht. Ein Angehöriger der Anstaltsleitung, der ihn Berichten zufolge erniedrigender Behandlung ausgesetzt hatte, soll ihm dort bereits einmal damit gedroht haben, ihn mit längerer Einzelhaft zu bestrafen.
Es sind bisher keinerlei Maßnahmen zur Sicherstellung des Schutzes von Timur Tangiyev ergriffen worden, sodass er auch weiterhin in Gefahr ist, angegriffen und misshandelt zu werden.