Amnesty Journal Deutschland 21. Dezember 2016

"Ohne Freiheit ist Sicherheit nichts"

"Ohne Freiheit ist Sicherheit nichts"

Der neue Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Markus N. Beeko

Ein Gespräch mit Markus N. Beeko, seit September 2016 Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, über die Menschenrechtsarbeit in Zeiten großer politischer Umbrüche.

Interview: Anton Landgraf

Wann warst Du zum ersten Mal beim Briefmarathon dabei?
Das war im Jahr 2006 – ich arbeitete im Internationalen ­Sekretariat in London. Dort erlebte ich, wie die Flure eines Tages mit den Fällen verfolgter Menschen aus dem Briefmarathon ­tapeziert wurden. Ich hatte zwar schon vom Briefmarathon ­gehört, aber die deutsche Sektion beteiligte sich damals noch nicht so aktiv daran wie heute. Das habe ich später oft ­erlebt: Bei Amnesty kann man immer wieder Neues entdecken, wie aktiv Menschen und Menschenrechte geschützt werden können – egal, wie lange man schon dabei ist.

Du hast Dein Amt als Generalsekretär in einer politisch schwierigen Zeit angetreten. Der kürzlich verstorbene deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern hat sogar ein "Zeitalter der Angst" vorausgesagt.
Schaut man in die Medien, auf Kinofilme oder wie ich jüngst mit meinen Kindern auf die Jugendbuchauslagen in Buchhandlungen, dann stößt man auf viele apokalyptische Bilder – dunkle Titel, Wettkampf ums Überleben. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche verunsichern viele Menschen auf der Welt. Populistische, autoritäre Regierungen gewinnen an Einfluss. Ausgrenzung, Repressalien, Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit nehmen zu, sicher gewähnte Menschenrechtsstandards werden infrage gestellt. Aber wir haben in den vergangenen Jahrzehnten auch viel zum Schutz der Menschenrechte beitragen können. Tausenden bedrohten Menschen konnten wir helfen, und weltweit setzen sich inzwischen Millionen für die Wahrung der Menschenrechte ein. Wir haben im Menschenrechtsschutz große Fortschritte erzielt, ob mit der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs oder mit internationalen Menschenrechtskonventionen wie den UNO-Pakten. Diese Standards und Institutionen gilt es nun zu stärken. Gerade in Zeiten von Umbrüchen ist es wichtig, Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen aktiv einzufordern, denn Frieden und Sicherheit beruhen auf ihrer Einhaltung. Wir sollten Regierungen daran erinnern, dass sie es in der Hand haben, der Verunsicherung etwas entgegenzusetzen.

Die Schwierigkeiten sind für Amnesty sehr konkret: Das Büro in Moskau wurde kürzlich von den russischen Behörden versiegelt, in der Türkei ist die Arbeit kaum noch möglich.
Weltweit werden die Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Anwälte kleiner. Sie werden schikaniert, ihre Arbeit wird behindert, sie werden als "ausländische Agenten" diffamiert, bedroht und gar umgebracht. Deshalb ist es wichtig, dass wir, solange es geht, vor Ort aktiv bleiben.

Amnesty hat mittlerweile Büros in Schwellenländern wie ­Indien oder Brasilien eröffnet. Ein zu hohes Risiko?
Klar gibt es Risiken, aber wir sind eine internationale Bewegung. Es war eine bewusste Entscheidung, auch vermehrt dort zu sein, wo Menschenrechtsverletzungen geschehen. Und weltweit mit Aktiven und Partnern vor Ort zu arbeiten.

Die Auswirkungen vieler Krisen sehen wir nicht nur in fernen Ländern, sondern direkt vor unserer Haustür. War Amnesty auf die aktuellen Flüchtlingsbewegungen vorbereitet?
Die Folgen etwa des gescheiterten "Arabischen Frühlings" und der bewaffneten Konflikte im Nahen Osten waren vielleicht vorhersehbar, nicht jedoch das Ausmaß und die Dynamik. Die Frage, die sich heute den europäischen Regierungen und Gesellschaften stellt, ist auch nicht neu: Wie übernimmt die EU ihren Anteil, schutzsuchenden Menschen Zuflucht zu gewähren? Wie werden Staaten, die bislang den Großteil der weltweiten Flüchtlinge aufgenommen haben, stärker unterstützt? Es drängt seit langem, dass Europa sichere Zufluchtswege für verfolgte Menschen schafft. Es braucht ein solidarisches Verteilungssystem innerhalb der EU, damit nicht nur einige wenige Länder das schultern müssen. Die aktuelle Situation ist eine Herausforderung – und die EU bleibt gefordert, Lösungen zu finden, die sich an ihren Werten und menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber schutzsuchenden Menschen orientieren.

Es geht aber auch um den Schutz dieser Menschen bei uns.
Es macht einen fassungslos: Täglich kommt es in Deutschland zu Angriffen auf Menschen, nur weil sie anders aussehen oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zugerechnet werden. Menschen, die vor Krieg und Verfolgung hier Schutz suchen, haben Angst um ihre Familien. Dieses Jahr wurden bis Ende Oktober vom Bundesinnenministerium mehr als 1.800 Angriffe auf Flüchtlinge registriert sowie mehr als 800 Straf­taten gegen ihre Unterkünfte. Hier sind Innenminister, Polizei und Strafverfolgungsbehörden gefragt: Diese "hassmotivierten", rassistischen Übergriffe müssen konsequent verfolgt werden. Es fehlt ein bundesweites Schutzkonzept für Flüchtlingsunterkünfte. Hier ist der Rechtsstaat gefordert.

Gibt es zu wenig politischen Druck seitens der Zivilgesellschaft, die diesen Schutz einfordert?
Das ist eine gute Frage. Wobei es ja angesichts der vielen Übergriffe eigentlich keines besonderen Druckes bedürfen ­müsste, um den Rechtsstaat zu mobilisieren. Der öffentliche Aufschrei hält sich allerdings in Grenzen. Amnesty wird die Forderung nach einem bundesweiten Schutzkonzept weiter bei den Innenministern mit Nachdruck verfolgen.

Ein Grund für die polarisierte Stimmung ist die Angst vor Anschlägen. Ist mehr Sicherheit nur auf Kosten von Freiheit und Offenheit zu haben?
Die Freiheit des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft braucht Sicherheit – vor externen Bedrohungen, aber auch die Sicherheit, die eigenen Rechte wahrnehmen und gegebenenfalls einklagen zu können. Sicherheit dient demnach insbesondere dazu, einen Raum zu schaffen, in dem jeder ohne Schaden selbstbestimmt leben und seine Menschenrechte wahrnehmen kann. Also keine Freiheit ohne Sicherheit. Aber ohne die Freiheit, die eigenen Rechte wahrzunehmen, ist Sicherheit nichts. Weltweit wird immer wieder versucht, einen Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit aufzumachen. Mit Besorgnis ­sehen wir zum Beispiel die Einschränkungen der Privatsphäre. Dass die Bundesregierung zusammen mit Brasilien zwei wichtige internationale UNO-Resolutionen zum Schutz des Menschenrechts auf Privatsphäre initiiert hat, ist hier positiv hervorzu­heben. Damit wenig vereinbar bleibt das neue BND-Gesetz: ­Amnesty teilt die massive Kritik des UNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf Privatsphäre an dem vor wenigen Wochen verabschiedeten Gesetz.

Warum sollen sich junge Menschen bei Amnesty organisieren?
Die gute Nachricht ist, dass weiterhin viele junge Menschen zu Amnesty kommen. Die Welt wächst zusammen, mit neuen Chancen, aber auch neuen Fragen: Globalisierung, digitale Transformation, Fragen der Sicherheit, Religion. Viele junge Menschen wollen diese Entwicklung aktiv mitgestalten. Junge Menschen schauen hin. Sie akzeptieren nicht, dass Schutzsuchende an Staatsgrenzen abgewiesen werden, dass unsere Privatsphäre Geheimdiensten zum Opfer fällt oder dass multinationale Konzerne ihre Geschäfte zwar global machen, sich aber lokal vor der Verantwortung drücken. Für eine Mitgliederbewegung bedeuten junge Menschen auch, dass Methoden und Themen immer wieder hinterfragt werden. Einer Bewegung tut ­Bewegung gut. Derzeit diskutieren wir, wie eine zeitgemäße ­Jugendvertretung bei Amnesty organisiert sein sollte. Eine wichtige Frage für Amnesty ist auch, wie wir trotz Wachstum unserem demokratischen Selbstverständnis treu bleiben. Und natürlich die Herausforderung, weltweit schnell und unbürokratisch auf Menschenrechtskrisen zu reagieren.

Was ist für Dich das Besondere an Amnesty?
Amnesty verbindet auf wunderbare Weise zwei große Ideen. Erstens die Idee der Menschenrechte: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft oder seiner sexuellen Orientierung benachteiligt oder verfolgt werden. Niemand darf in Sklaverei gehalten werden, niemand gefoltert werden. Wir sind frei zu entscheiden, wen wir heiraten wollen, frei zu entscheiden, an wen wir glauben. Eine großartige Idee, die uns allen ein selbstbestimmtes Leben in Würde zugesteht, uns Mensch sein lässt. Fast zu schön, um wahr zu sein, könnte man sagen. Was leider für die Mehrzahl der Menschen auf unserer Erde auch gilt – sie werden einer Vielzahl ihrer Rechte beraubt. Hier kommt die zweite tolle Idee zum Tragen: Amnesty International – eine weltweite Bewegung von Menschen, die sich solidarisch für die Menschenrechte aller einsetzen. Selbstlos, unabhängig von anderen Interessen und überzeugt, dass Menschen nicht hilflos und ohnmächtig gegenüber denen sein sollten, die mit Gewalt und Unterdrückung Menschenrechtsverletzungen begehen. Dies war, was Peter Benenson 1961 bei der Gründung von Amnesty bewegte – der eigenen Hilflosigkeit etwas entgegenzusetzen. Eine Bewegung, in der "gewöhnliche" Leute ­zusammen "Außergewöhnliches" leisten konnten. Und die ­seitdem Millionen inspiriert und motiviert hat, mitzumachen. Mich auch.

Wie bist Du zu Amnesty gekommen?
Freiheit und Gerechtigkeit spielten bereits in meiner Kindheit eine Rolle. Mein Vater, geboren 1933 in der damaligen britischen Kolonie Goldküste, gehörte zu der Generation junger ­Afrikaner, die mit Stolz und Hoffnung die Unabhängigkeit der noch jüngeren afrikanischen Staaten begleiteten. Intensiv beschäftigten mich damals auch die Anti-Apartheidbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Vorstellung, dass alle Menschen frei von Willkür und Fremdbestimmung leben können sollten – das hat mich geprägt.

Was hat Dich bei Amnesty besonders beeindruckt?
Es sind die Menschen, die alle auf ihre Weise beeindruckend sind. Die Menschenrechtsverteidiger, die Unglaubliches in Kauf nehmen, um gegen Ungerechtigkeit aufzubegehren – und dabei positiv und hoffnungsvoll bleiben. Die große Familie der Amnesty-Mitglieder und Kolleginnen und Kollegen weltweit, alle sehr unterschiedlich und bunt, mit unterschiedlichsten Expertisen – und gleichzeitig geeint in ihrem unermüdlichen Einsatz. Aber auch die Hartnäckigkeit der Organisation, bedrohte Menschen und Menschenrechtsanliegen nie aus den Augen zu verlieren und nicht anderen Zielen unterzuordnen, ist mir wichtig.

Bist Du wieder beim Briefmarathon dabei?
Im vergangenen Jahr haben wir aus Deutschland mehr als 255.000 Briefe und E-Mails verschickt, weltweit waren es 3,7 Millionen. Mit Erfolg: Albert Woodfox aus den USA ist nach 44 Jahren Haft wieder frei, ebenso wie eine junge Aktivistin aus Myanmar, die wegen ihrer Rolle bei Studentenprotesten inhaftiert wurde. Erfolge gab es auch bei Fällen aus Griechenland und Mexiko. Jetzt sind wieder viele Aktionen bundesweit geplant. Ich freue mich, dass wir Özcan Kılıç, den Anwalt unserer Menschenrechtspreisträgerin Eren Keskin, zu Gast haben. Mit ihm gemeinsam werden wir uns weiter dafür einsetzen, eine Haftstrafe für Keskin in der Türkei zu verhindern. Gespannt bin ich auch auf den 24-Stunden-Marathon am 10. Dezember, den die Mitglieder des Berliner Amnesty-Bezirks organisieren. Wenn alle wieder mitmachen, können wir dieses Jahr noch mehr Druck erzeugen.

Markus N. Beeko
Der gebürtige Kölner ist seit September 2016 General­sekretär von Amnesty International in Deutschland. Zuvor war er bereits zwölf Jahre in der Organisation aktiv. Vor seinem Wechsel zu Amnesty sammelte der 49-jährige Diplom-Kaufmann mit deutsch-ghanaischen Wurzeln ­Erfahrungen in der Schweizer Politik- und Wirtschaftsberatung und der Kommunikationsbranche.

Dieser Artikel ist in der Dezember/Januar-Ausgabe 2016/2017 des Amnesty Journal erschienen

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