Amnesty Journal 09. Dezember 2015

"Strafen helfen nicht"

Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter demonstrieren im indischen Kalkutta für mehr Rechte (Juli 2012)

Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter demonstrieren im indischen Kalkutta für mehr Rechte (Juli 2012)

Amnesty-Mitglieder aus der ganzen Welt trafen sich im August 2015 zur Internationalen Ratstagung (ICM) in Dublin. Dort berieten sie unter anderem über eine Resolution zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, die am Ende der Tagung auch verabschiedet wurde. Im Kern wird darin die vollständige Entkriminalisierung aller Aspekte einvernehmlicher Sexarbeit gefordert. Auf Grundlage dieser Resolution wird nun der Internationale Vorstand eine Position ausarbeiten. Ein Gespräch mit Kate Schuetze, Beraterin in Rechts- und Strategiefragen von ­Amnesty International in London.

In vielen deutschen Medien war im August zu hören und zu ­lesen, dass Amnesty sich für die Entkriminalisierung von ­Sexarbeit einsetzt. Das hat viele Menschen überrascht. Warum ist Sexarbeit für Amnesty ein Thema? Amnesty International ist eine Menschenrechtsorganisation und hat als solche den Schutz der Rechte aller Menschen zum Ziel. Wir setzen uns auch für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ein, da sie in hohem Maße Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung erfahren. Weil ihre Arbeit als Straftat eingestuft wird, haben sie oft keine Möglichkeit, juristisch gegen die Verletzung ihrer Rechte vorzugehen. Personen, die andere zu Sexarbeit zwingen, müssen natürlich kriminalisiert werden, aber nicht die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selbst. Viele von ihnen üben ihre Tätigkeit aus, weil sie infolge von Ausgrenzung kaum andere Möglichkeiten haben. Wenn man sie für ihre Arbeit bestraft, wird ihnen das nicht helfen. Im Gegenteil: Es macht es ihnen nur noch schwerer, eine alternative Tätigkeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Stattdessen sollten Regierungen dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Betroffenen geschützt werden und ihnen beispielsweise Sozialleistungen, Bildungschancen und Ausbildungsmöglichkeiten anbieten, damit sie ihre Tätigkeit aufgeben können, wenn sie möchten. Amnesty International steht mit der Forderung nach einer Entkriminalisierung von Sexarbeit übrigens nicht alleine da. Weitere Organisationen, die dies fordern, sind unter anderem die Weltgesundheitsorganisation, UNAIDS, die Internationale Arbeitsorganisation, die Weltkommission für HIV und das Recht, der UNO-Sonderberichterstatter über das Recht auf Gesundheit, Human Rights Watch, die Open Society Foundations, die Global Alliance Against Traffic in Women sowie Anti-Slavery International.

Bevor Amnesty diese Resolution verabschiedete, gab es in vielen Ländern Recherchen und Diskussionen. In welchem Maße waren die Mitglieder an diesem Prozess beteiligt? 2013 wurde ein Entwurf ausgearbeitet, der auf Erkenntnissen aus der Wissenschaft und aus verschiedenen UNO-Einrichtungen sowie auf internationalen Menschenrechtsstandards ­beruhte. Daraufhin befragten Amnesty-Büros auf der ganzen Welt die Mitglieder sowie weitere Akteure, ob sie der Ansicht sind, dass Amnesty eine solche Position vertreten sollte. Außerdem recherchierte Amnesty, wie die Realität von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern in Argentinien, Hongkong, Norwegen und Papua-Neuguinea aussieht. Wir stellten fest, dass Regierung und Polizei sich in diesen Ländern stärker auf das Verbot von Sex­arbeit konzentrieren als darauf, die Betroffenen vor Gewalt und anderen Misshandlungen zu schützen. Oft war die Polizei selbst für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Der Positionsentwurf wurde dementsprechend ständig neu geprüft, überarbeitet und abgeändert. Auf der Internationalen Ratstagung von Amnesty im August wurde dann eine Resolution verabschiedet und der internationale Vorstand beauftragt, eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern auszuarbeiten.

War die Entscheidung innerhalb von Amnesty umstritten? Die Position war nicht unumstritten, sie wird aber von dem überwiegenden Teil der Amnesty-Bewegung und anderen ­Personen und Organisationen unterstützt. Wir haben im Zuge des Diskussionsprozesses eine ganze Reihe von Themen mit­einbezogen, zum Beispiel Faktoren wie Gewalt gegen Frauen, wirtschaftliche Not und verschiedene Arten von Diskriminierung, die zu Sex­arbeit führen können. Darüber hinaus haben wir Maßnahmen vorgeschlagen, um Sexarbeiterinnen und ­Sexarbeiter vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen und um sicherzustellen, dass niemand aufgrund einer Notlage zu ­Sexarbeit gezwungen ist.

Was bedeutet diese Entscheidung für Amnesty als Organisation? Die Resolution ist ein positiver Schritt für die Organisation, weil damit eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern beschlossen wurde. Amnesty hat im Namen der Menschenrechte schon häufiger couragierte und nicht unumstrittene Positionen eingenommen, so zum Beispiel bei der Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe und der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Mit dieser Resolution wird diese Tradition fortgesetzt.

Kritiker sagen, damit mache sich Amnesty International zum Fürsprecher von Zuhältern und Freiern und sei für Menschenhandel und Zwangsprostitution mitverantwortlich… Bei dieser Resolution geht es einzig und allein darum, die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu schützen. In den meisten Ländern wird nicht der direkte Verkauf von Sex ­kriminalisiert, sondern all die Aktivitäten drumherum. Mit der Resolution wird anerkannt, dass die Kriminalisierung den Betroffenen schadet. Sie verstärkt die Stigmatisierung und Diskriminierung, indem sie Razzien, Festnahmen, Schikanen und Misshandlungen durch die Polizei Vorschub leistet. Sie führt auch dazu, dass Maßnahmen, die Sexarbeiterinnen und Sex­arbeiter zu ihrer Sicherheit ergreifen möchten, kriminalisiert werden. Außerdem werden dadurch die Möglichkeiten für Polizeischutz eingeschränkt und diejenigen, die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in ihren Rechten verletzen, gehen straflos aus. Der Aspekt der Entkriminalisierung hat großes Aufsehen erregt. In der Resolution sind aber auch eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgelistet, die Staaten unserer Meinung nach ergreifen müssen, um zu verhindern, dass Menschen zum Überleben auf Sexarbeit zurückgreifen müssen. Gesetze müssen so formuliert sein, dass Ausbeutung und Misshandlung, zum Beispiel durch Menschenhandel, verhindert und bestraft werden, statt Sex­arbeiterinnen und Sexarbeitern mit Strafen zu drohen und ihr ­Leben noch gefährlicher zu machen. Die Probleme Ausbeutung, Menschenhandel und geschlechtsspezifische Diskriminierung löst man nicht durch die Kriminalisierung marginalisierter ­Personengruppen.

Wie sehen die nächsten Schritte aus? Nun wird der internationale Vorstand eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern ausarbeiten, die auf der Wahrung der Menschenrechte und auf ­anerkannten Erkenntnissen basiert. Die Amnesty-Mitglieder in aller Welt haben vor der endgültigen Verabschiedung dieser ­Position die Möglichkeit, den Entwurf erneut zu prüfen und Rückmeldung zu geben.

Wie wird Amnesty International sich in Zukunft für Frauenrechte und gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution einsetzen? Mit dieser neuen Position wird Amnesty besser in der Lage sein, für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Auf der Internationalen Ratstagung wurden auch die strategischen Ziele der Organisation für die kommenden Jahre beschlossen. Dabei spielen die Förderung der Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung eine zentrale Rolle. Darüber hinaus sollen Staaten dazu gebracht werden, Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren, besseren Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen zu gewähren und Antidiskriminierungsgesetze zu verabschieden und umzusetzen.

Interview: Maja Liebing

Internationale Ratstagung (ICM) Amnesty International ist basisdemokratisch organisiert: Alle zwei Jahre treffen sich Amnesty-Mitglieder aus aller Welt, um über die politische Ausrichtung der Menschenrechtsorganisation zu entscheiden. Das "International Council Meeting" (ICM), auf Deutsch: "Internationale Ratstagung", ist das höchste beschlussfassende Gremium von Amnesty auf internationaler Ebene. Am 7. August war es wieder soweit: Rund 400 internationale Delegierte ­reisten nach Dublin, um die Weichen für die zukünftige Arbeit der Menschenrechtsorganisation zu stellen.

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