Amnesty Journal 09. Dezember 2015

Im falschen Film

Zeichnung eines Fotoapparates, eines Pinsels und Viertelnoten

Der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov und der ­Ökologe Aleksandr Kolchenko sind von einem russischen Militärgericht wegen "terroristischer Aktivitäten" zu ­langen Haftstrafen verurteilt worden. Die Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens sind groß.

Von Stefan Wirner

Die Szenerie erinnert an einen Schauprozess: Angeklagte, die in einem Eisenkäfig sitzen, Belastungszeugen, die in Handschellen vorgeführt werden. Das Militärgericht im südrussischen Rostow hat ein Exempel statuiert: Es verurteilte am 25. August den Filmregisseur Oleg Sentsov zu zwanzig Jahren Gefängnis und den Umweltschützer Aleksandr Kolchenko zu zehn Jahren.

Den beiden Männern, die von der Krim stammen, wurde vorgeworfen, nach der russischen Besetzung der Halbinsel Brandanschläge auf prorussische Gruppen in der Hauptstadt Simferopol verübt zu haben. Sentsov soll überdies Anführer der extremen ukrainischen Organisation "Rechter Sektor" auf der Krim gewesen sein. Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko bestreiten die Terrorismusvorwürfe vehement. Sentsov behauptet überdies, in der Haft gefoltert worden zu sein.

Die beiden Aktivisten wurden im Mai 2014 vom russischen Geheimdienst FSB auf der Krim festgenommen. Sie hatten gegen die Besetzung der Halbinsel durch russische Truppen demonstriert – dies war offensichtlich der Anlass, gegen sie vorzugehen.

Der Filmregisseur Oleg Sentsov war Teil der Euromaidan-Bewegung in Kiew, die um die Jahreswende 2013/2014 gegen Korruption, Vetternwirtschaft und die antiwestliche Haltung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch protestierte. Senstsov ­engagierte sich insbesondere in der sogenannten AutoMaidan-Bewegung, die während der Krimkrise versuchte, ukrainische Soldaten, die von prorussischen Einheiten blockiert worden ­waren, mit Vorräten zu versorgen.

Nach ihrer Verhaftung wurden Sentsov und Kolchenko nach Moskau gebracht, tagelang hatten sie keinen Kontakt zu ihren Rechtsbeiständen. Schließlich wurden sie vor dem Militärgericht in Rostow angeklagt. Bogdan Ovcharuk, der Verantwortliche für Medien und Kommunikation von Amnesty International in der Ukraine, besuchte den Prozess und beschrieb ihn in einem Artikel für das Nachrichtenmagazin "Newsweek".

Demnach saßen die Angeklagten in einem Eisenkäfig in einem winzigen Raum des Gerichts. Der Zeuge und ehemalige Mitaktivist Aleksei Chirniy wurde in Handschellen vorgeführt und wirkte sichtlich eingeschüchtert. Er war zuvor bereits zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er sich für Brandstiftung schuldig bekannt hatte. Sein Anwalt betont, dass er nur unter Folter gestanden habe. Ein weiterer Belastungszeuge, der Anwalt Gennadiy Afanasiev, widerrief vor Gericht seine Angaben und sagte ebenfalls, sie unter Zwang gemacht zu haben.

Diese möglicherweise unter Folter erpressten Aussagen, Angaben eines Geheimdienstmitarbeiters und abstruse Indizien wie der Besitz von Visitenkarten des ukrainischen Sportministers führten schließlich zur Verurteilung von Sentsov und Kolchenko. Das Urteil wurde international scharf kritisiert. Die Europäische Filmakademie forderte die Freilassung Sentsovs, 1.000 Filmschaffende unterzeichneten einen offenen Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Auch russische Filmemacher setzen sich für die beiden Inhaftierten ein. "Das Ganze ist Teil der russischen Kriegspropaganda gegen die Ukraine und erinnert an die Schauprozesse gegen Dissidenten unter Stalin", sagte Heather McGill, Amnesty-Expertin für Europa und Zentralasien. "Das Gerichtsverfahren war in höchstem Maße fehlerhaft und glaubwürdige Folter- und Misshandlungsvorwürfe wurden vom Gericht ignoriert." Amnesty International fordert die Eröffnung eines fairen Prozesses vor einem zivilen Gericht oder andernfalls die Freilassung von Sentsov und Kolchenko.

Der Autor ist freier Journalist.

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