Amnesty Journal 04. Februar 2014

Die Angst vor dem Anderssein

Lange Tradition von Vorurteilen. Lesbisches Paar in Kapstadt.

Lange Tradition von Vorurteilen. Lesbisches Paar in Kapstadt.

Südafrika besitzt eine der modernsten Verfassungen der Welt. Dennoch sind Diskriminierung und Gewalt gegen Schwule und Lesben alltäglich.

Von Martina Schwikowski

Das Symbol der Demokratie Südafrikas steht an prominenter Stelle: Das Verfassungsgericht des Landes befindet sich auf einem Hügel mit Blick auf das gigantische Häusermeer von Johannesburg. Direkt darunter liegt das Viertel Hillbrow, die einstige Ausgehmeile der weißen Boheme. Heute beherbergt der mittlerweile desolate Stadtteil arme Schwarze und Migranten aus vielen Ländern des afrikanischen Kontinents. Sie kommen aus Krisenregionen und suchen Schutz vor politischer Verfolgung und Diskriminierung in ihren Ländern.

Die Zuwanderung begann mit dem politischen Wandel in Südafrika, der durch die ersten freien Wahlen 1994 und die Regierung Mandelas eingeleitet wurde. Gleichberechtigung, Einheit und die Achtung der Menschenrechte für alle, die in Südafrika leben – unabhängig von Hautfarbe, religiöser Überzeugung und sexueller Orientierung: Das sind die Grundlagen des neuen Südafrikas – verankert in der modernsten Verfassung der Welt. Aber in der Realität werden Menschen, deren Rechte eigentlich geschützt sind, noch immer missachtet und verfolgt: Sogenannte Hassverbrechen gegen Schwule und Lesben sind in Südafrika an der Tagesordnung.

Der Bau ist beeindruckend, die Architektur imposant. In den Regenbogenfarben der Nation steht in allen elf offiziellen Sprachen "Constitutional Court" auf einer Tafel am Eingang des Komplexes. Nirgendwo in Südafrika kann die Geschichte einer Gesellschaft im Übergang besser erzählt werden. Denn wie ein Mahnmal sitzt das Gerichtsgebäude auf dem Gelände des ehemaligen "Old Fort", dem Stadtgefängnis aus vergangenen Jahrhunderten.

Nicht nur Ikonen des Freiheitskampfes wie Nelson Mandela und Mahatma Gandhi waren zeitweilig im "Old Fort" eingekerkert, sondern auch schwule Männer. Ihre Lebensweise galt als "Verbrechen gegen Gott" und wurde vom 19. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre mit Haft im "Old Fort" bestraft. Im 17. Jahrhundert hatte Homosexuellen gar die Todesstrafe gedroht.

"Die Holländer brachten die Gesetze mit", erklärt Anthony Manion, Direktor der Schwulen- und Lesbenorganisation "Gala". Das Büro der Organisation ist der Witwatersrand-Universität angegliedert und liegt in der Nähe des Verfassungsgerichts. "Gala" setzt sich für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit auf dem Kontinent ein und führt Studien zu Homophobie durch, in Partnerschaft mit der Unesco.

"Damals waren in den Niederlanden die Calvinisten an der Macht", sagt Manion. Sie siedelten sich im 17. Jahrhundert am Kap an und kriminalisierten die sogenannte Sodomie mit drastischen Strafen. Als anschließend die Briten in Südafrika regierten, bestraften sie Sex unter Männern weniger drastisch, die ­Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Beziehungen wurde ab­geschafft. Es gab weniger Verhaftungen. Auf lesbische Frauen fanden die Gesetze kaum Anwendung. "Frauen wurden nicht ernst genommen, sie waren keine Bedrohung für den partriarchalischen Staat", sagt Manion.

Die heute existierenden Vorurteile gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transsexuelle gehen auf konservative Glaubens­einstellungen zurück, die sich während der Rassen- und Diskriminierungspolitik des Apartheidstaates verfestigten. Während Schwule und Lesben zuvor eher als "krank" angesehen wurden, politisierte sich die Frage der Homosexualität in den fünfziger und sechziger Jahren, als die weiße Minderheitenregierung die Rassentrennung als gottgewollt propagierte.

Während die sexuelle Revolution in den sechziger und siebziger Jahren in vielen Ländern diskriminierende Gesetze gegen das Anderssein von Schwulen und Lesben aufhob, begann in Südafrika eine gefährliche Zeit für Homosexuelle: Das "Gesetz zur Immoralität" aus dem Jahr 1967 sah härtere Strafen vor, erstmals auch gegen Lesben. "Es ist schwierig, etwas über die ­Erfahrungen von Frauen und Schwarzen während dieser Zeit herauszufinden", sagt Manion, gibt es doch meist nur Zeitungsartikel und mündliche Überlieferungen, die Hinweise darauf enthalten. "Es gab häufig Razzien bei Schwulenparties mit weißen Männern aller Klassen, die im Gefängnis landeten."

Doch entwickelte sich zu dieser Zeit in den Townships eine lebendige Subkultur, die vor allem durch schwarze Migranten geprägt war, die in Männerwohnheimen leben mussten, wenn sie in der Stadt Arbeit suchten. "Dort fanden sie den Raum, sich sexuell auszudrücken", sagt Manion. Auch Hillbrow war ein offener Ort für Schwule und Lesben.

Erst in den achtziger Jahren setzte langsam eine Liberalisierung ein. Die seit 1996 geltende Verfassung schrieb zwar gleiches Recht für alle fest, doch damit waren die alten Gesetze noch vorhanden. "Erst 1998 ist Sodomie entkriminalisiert worden", erklärt Manion, dessen Organisation auch historische Führungen auf dem "Constitution Hill" veranstaltet.

In einem fast revolutionären Schritt wurde in Südafrika bereits 2005 die gleichgeschlechtliche Ehe möglich. Doch noch immer mangelt es an gesellschaftlicher Akzeptanz: "Noch heute glaubt die Mehrheit in Südafrika, gleichgeschlechtlicher Sex sei unafrikanisch", sagt Manion. Dabei gibt es Hinweise, dass gleichgeschlechtlicher Sex schon vor der Kolonialisierung in Afrika praktiziert wurde.

Die Bevölkerung Südafrikas ist mehrheitlich christlich. Es gibt verschiedene Glaubensrichtungen, die eines gemeinsam haben: Sie sind konservativ, wenn es um Fragen der sexuellen Identität geht. Auch der derzeitige Präsident Jacob Zuma fiel 2006 durch homophobe Äußerungen auf, die im Widerspruch zur Verfassung stehen: "Als ich aufwuchs, hätte ein Schwuler nicht vor mir gestanden. Ich hätte ihn umgehauen." Und: "Gleichgeschlechtliche Heirat ist eine Schande für die Nation und Gott", sagte Zuma.

Homophobe Hassreden sind auch aus anderen afrikanischen Ländern bekannt, weshalb viele afrikanische Schwule und Lesben Richtung Südafrika fliehen. In der neuen Demokratie werden sie zwar ebenfalls stigmatisiert und ausgegrenzt, doch existieren dort mehr Gruppen und Organisationen, die sich für die Rechte von LGBT einsetzen. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass es inzwischen immer mehr Berichte und Zahlen über Gewalt gegen Schwule und Lesben gibt. Ob auch die Zahl der Hassverbrechen in den vergangenen Jahren angestiegen ist, lässt sich allerdings noch nicht sagen.

Sowohl "Gala" als auch Südafrikas älteste LGBT-Organisation "Out", die seit 19 Jahren tätig ist, hoffen, dass die Stigmatisierung sexueller Minderheiten in Südafrika abnehmen wird. Die Organisationen setzen dabei auch auf eine progressivere Fraktion innerhalb der Regierung: So wurde im Justizministerium nach umfangreichen Beratungen mit Menschenrechtskommissionen und Vertretern der Zivilgesellschaft eine Arbeitsgruppe eingesetzt, mit dem Ziel, Gewalt gegen Schwule und Lesben zu vermindern und ihre Rechte zu stärken. "Out" war ebenfalls an den Beratungen im Vorfeld beteiligt. "Es ist wichtig, dass sich dieses Team auch mit Kriminalakten beschäftigt und mit Fällen, die bei der Polizei häufig in der Schublade verschwinden", sagt Johan Meyer, Gesundheitsbeauftragter von "Out". "Die ineffiziente Arbeit der Polizei und mangelnde Beweise führen oft dazu, dass Ermittlungen gegen Gewalttäter im Sande verlaufen", sagt er. "Zudem gibt es auch Fälle, in denen homosexuelle Menschen Opfer der Polizei werden."

Die Einheit soll außerdem Gesetzeslücken ausfindig machen. Aus Sicht von Meyer ist das größte Problem mit der modernen Verfassung, dass Ausführungsbestimmungen fehlen und die Umsetzung auf lokaler Ebene mangelhaft ist. Oft gehe es auch um die Frage: Handelt es sich um ein Hassverbrechen oder nur um ein kriminelles Vergehen? Trotz der Initiative des Justizministeriums bleibt für Organisationen wie "Gala" oder "Out" noch viel zu tun: "Ein geändertes Verhalten und eine offenere Haltung gegenüber LGBT kann eben nicht per Gesetz angeordnet werden." Die Organisationen haben deshalb Aufklärungskampagnen initiiert. Dass auch die Regierung mit Anzeigen und Fernsehwerbespots gegen die Stigmatisierung von Lesben und Schwulen vorgehen will, ist für Meyer ein großer Fortschritt.

"Menschen haben Angst vor dem Anderssein", sagt er. Religiöse Überzeugungen und konservatives Denken förderten die Haltung, dass Andersartigkeit nicht akzeptabel sei. Auf den Dörfern propagieren außerdem traditionelle Stammesführer ein Rollenbild, wonach Männer stark sein müssen. Häufig wird in Südafrika der Spruch zitiert: "God created Adam and Eve, not Steve!" – selbst von jungen Leuten.

Bei "Out" finden Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transsexuelle Unterstützung, psychologische Beratung und können sich auf HIV und Geschlechtskrankheiten testen lassen. "Wir bieten anonyme Hilfe ohne Beurteilung", sagt Meyer. Er hofft, dass bald auch ein Arzt in der Beratungsstelle arbeiten wird, um hilfesuchende Menschen schnell zu versorgen. Immer mehr homosexuelle Menschen bekennen sich offen zu ihrer Lebensweise, sagt Meyer. Zu "Out" kommen aber auch verheiratete Männer, um sich hier ungestört und frei von Angst beraten zu lassen.

"In ihrer Umgebung werden sie oft als 'Moffies' und 'Sissies' diffamiert", sagt Meyer. Manche leben in Todesangst, andere berichten von Angriffen mit Messern und Steinen. "Wir müssen mehr Fürsprache für sie übernehmen und ihre Interessen gegenüber der Gesellschaft noch stärker vertreten, auch in den ländlichen Gebieten."

Die Diskrepanz zwischen Verfassung und Wirklichkeit zeigt, dass es in der südafrikanischen Gesellschaft noch Aufholbedarf gibt, um die garantierten Menschenrechte auch tatsächlich umzusetzen. Jedes Jahr findet in Johannesburg, der größten Metropole des südlichen Afrikas, eine Schwulen- und Lesbenparade statt. Der "Gay Pride" ist ein riesiger bunter Karneval – er kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in dem Land an Toleranz mangelt. Immerhin haben LGBT-Gruppen die Freiheit, sich zu organisieren. In Kapstadt, das als "Pink City" gilt, finden zahlreiche Veranstaltungen für Schwule und Lesben statt, voller Stolz und Selbstbewusstsein. Aber die Vision der Gleichberechtigung aller Geschlechter, über die das Verfassungsgericht auf dem "Constitution Hill" wachen soll, steht häufig noch im Schatten einer patriarchalischen Gesellschaft, die um ihre Weiterentwicklung kämpft.

Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Johannesburg.

Homosexualität in Südafrika
Das Ende der Apartheid läutete Mitte der neunziger Jahre auch für die sexuellen Minderheiten des Landes eine Zeitenwende ein. Denn das Apartheid-Regime war nicht nur rassistisch, sondern auch homophob. Egal ob schwarz oder weiß: Wer als schwuler Mann zu Zeiten der Rassentrennung seinen sexuellen Neigungen nachging, musste lange Haftstrafen fürchten. (Über homosexuelle Frauen schwieg sich das Gesetz aus.) Nach dem Ende der Apart­heid gab sich das Land eine der liberalsten Verfassungen der Welt: Als erster Staat überhaupt verankerte Südafrika 1996 in seiner Verfassung, dass niemand aufgrund seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden dürfe. Im Jahr 2006 schrieb Südafrika erneut Geschichte, indem es als fünftes Land der Welt und als ers­tes Land in Afrika die bürgerliche Ehe für Homosexuelle öffnete. Bereits vier Jahre zuvor hatte das Oberste Gericht homosexuellen Paaren das Recht zugestanden, Kinder zu adoptieren. Doch auch wenn in Metropolen wie Kapstadt und Johannesburg eine lebendige Schwulen- und Lesbenszene existiert, ist Homosexualität außerhalb der Großstädte noch immer stark tabuisiert. Wie eine Meinungsumfrage ergab, halten 63 Prozent der Südafrikaner gleichgeschlechtliche Liebe für inakzeptabel.

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