Amnesty Journal Mexiko 27. September 2012

Schwarze Löcher

Gibt keine Ruhe. Lydia Cacho.

Gibt keine Ruhe. Lydia Cacho.

Journalisten werden in Mexiko drangsaliert, verfolgt und ermordet. Drogenkartelle wollen damit eine kritische ­Berichterstattung unterbinden. Für jeden zweiten Angriff auf Pressevertreter sind aber Polizisten und Beamte ­verantwortlich.

Von Wolf-Dieter Vogel

Lydia Cacho hatte gute Gründe, sich vor ungewollten Anrufen zu schützen. Immer wieder war die mexikanische Journalistin und Buchautorin bedroht worden. Deshalb hatte sie sich ein Funksystem zugelegt, über das sie nur Freunde und enge Kollegen ­erreichen konnten. Doch der Mann, der am 28. Juli anrief, war kein Vertrauter. "Elende Hure, wir haben dir schon mal gesagt, dass du dich nicht mit uns anlegen sollst. Du hast wohl aus dem letzten kleinen Ausflug nichts gelernt", drohte die Stimme an anderen Ende der Leitung.

Für die 49-Jährige war sofort klar, worauf der Anrufer anspielte: Im Dezember 2005, kurz nachdem ihr Buch "Die Dämonen von Eden" über einen Kinderpornoring erschienen war, war sie entführt worden. Sechs bewaffnete Männer, die sich als Polizisten ausgaben, hatten sie von ihrem Wohnort Cancún in den 1.500 Kilometer entfernten Bundesstaat Puebla gebracht. Dort wollten ihre Entführer sie ins Gefängnis stecken. Doch der Plan platzte: Lydia Cacho konnte eine SMS schicken, Mitarbeiter von Amnesty International und anderen Organisationen verhinderten die Inhaftierung.

Erst später brachte sie die Hintergründe der Aktion in Erfahrung: Hinter der Entführung steckte der Textilunternehmer Kamel Nacif aus Puebla, den die Autorin in ihrem Buch mit dem Netzwerk der Kinderpornografie in Verbindung gebracht hatte. Nacif hatte Cacho wegen Rufmord angezeigt. Sein Freund Mario Marín, der Gouverneur des Bundesstaates, arrangierte die Verhaftung und sorgte dafür, dass die Journalistin in der Haft misshandelt und vergewaltigt werden sollte. Dies ging aus dem Mitschnitt eines Telefonats zwischen Nacif und Marín hervor, den Unbekannte der Presse zuspielten. Er werde, so der Gouverneur, "der Alten eine Lektion erteilen, die sie nie vergisst".

Und nun der Anruf. Cacho vermutet dahinter Personen, die sie in ihrem neuen Buch "Sklaverei" des Menschenhandels bezichtigt. Wieder geht es um Kriminelle und Politiker, die in Netzwerke verstrickt sind. Da die Anrufer in das interne Funksystem eindrangen, geht die NGO "Artículo 19", die sich für die Pressefreiheit einsetzt, davon aus, dass das Organisierte Verbrechen involviert ist. "Häufig sind es kriminelle, wirtschaftliche und politische Interessen, wegen derer Journalisten zum Schweigen gebracht werden sollen", erklärt Sprecher Omar Rábago dem Amnesty Journal. Zugleich kritisiert er, dass es in 14 Bundesstaaten möglich ist, "Rufmord" juristisch zu verfolgen. "Wenn Unternehmer mit einer Verleumdungsklage drohen, geben viele Reporter Ruhe, um nicht im Gefängnis zu landen."

Lydia Cacho hat keine Ruhe gegeben. Und sie weiß, dass sie nicht nur eine Klage, sondern ihr Leben riskiert. Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission wurden in Mexiko seit dem Jahr 2000 mindestens 82 Journalistinnen und Journalisten ermordet, 14 sind verschwunden, immer wieder gibt es gewalttätige Angriffe gegen Medienhäuser. Seit der von der Regierung erklärte Krieg gegen die Mafia eskaliert ist, haben die Aggressionen noch zugenommen. Allein im Bundesstaat Vera­cruz starben neun Medienvertreter, seit der Gouverneur Javier Duarte de Ochoa im Dezember 2010 sein Amt übernommen hat.

Die Region zählt zu den besonders umkämpften Gebieten der Kartelle. Und nicht erst seit in einem Regierungsflugzeug 1,5 Millionen Euro in bar gefunden wurden, gehen viele Beobachter davon aus, dass Duarte für eine der Mafia-Gruppen in dem Krieg mitmischt. Es gibt Verbindungen zwischen der politischen Macht und den Kriminellen, sagt Jorge Carrasco vom Wochenmagazin "Proceso". Seit deren Korrespondentin Regina Martínez im April ermordet wurde, fordert die Redaktion Aufklärung. "Martínez hat unter feindlichen Bedingungen gearbeitet", erläutert Carrasco. Schon vor dem Mord sei jemand in ihr Haus eingebrochen und habe zwei Handys und einen Computer gestohlen. Wenn die Zeitung über Veracruz berichtet habe, sei die Ausgabe von Unbekannten aufgekauft worden und nicht im Bundesstaat angekommen.

Der Fall hat hohe Wellen geschlagen, da mit Martínez die ­Reporterin eines landesweiten Magazins einem Anschlag zum Opfer fiel. Meist trifft es lokale Journalisten, und häufig geben kleine Zeitungen oder Radiosender dem gewaltigen Druck nach: Mittlerweile berichten viele nicht mehr über die Machenschaften der Kartelle sowie deren Verbindungen zu Politik und Wirtschaft. "Die Journalisten haben keine Alternative: Entweder sie schweigen oder sie werden zum Schweigen gebracht", erklärt Omar Rábago von "Artículo 19". Er verweist auf den Bundesstaat Tamaulipas: "Dort gibt es regelrecht ein schwarzes Loch der Information."
Gerade in solchen Regionen haben Blogger eine große Bedeutung bekommen.

Auf Portalen wie blogdelnarco.com und borderlandbeat.com schreiben sie, worüber andere Medien nicht mehr berichten. Im Schutz des Netzes informieren die ­unbekannten Autorinnen und Autoren über die neuesten Entwicklungen bei den Kartellen, kriminelle Verflechtungen oder einfach darüber, wo man sich in der Stadt sicher bewegen kann. Das tat auch María Elisabeth Macías Castro, die alle Leserinnen und Leser des Portals "Nuevo Laredo en Vivo" als "das Mädchen von Laredo" kannten, bei Twitter war sie das "Laredo-Girl". Im September vergangenen Jahres fand man ihren Körper enthauptet und verstümmelt auf einer belebten Straße der Grenzstadt. Neben ihrer Leiche lagen zwei Tastaturen, ein CD-Player sowie mehrere Kabel. Und ein Brief, der sich explizit an die Nutzer des Forums und sozialer Netzwerke richtete: "Ich bin wegen meinen und euren Berichten hier." Gezeichnet: "ZZZZ", sprich die Zetas – jenes Kartell, das Nuevo Laredo kontrolliert. Zwei Wochen vorher fanden Taxifahrer einen Mann und eine Frau, die an einer Brücke aufgehängt waren. Wieder hinterließen die Täter eine deutliche Botschaft: "Das passiert allen Internetpetzen."

Aber auch die Strafverfolger gehen gegen User von sozialen Netzwerken vor. In Veracruz wurden zwei Menschen als Terroristen der Sabotage angeklagt, weil sie über Twitter vor einem angeblich bevorstehenden Angriff der Mafia auf eine Schule ­gewarnt hatten. Amnesty kritisiert das Verfahren. Der Drogenkrieg schaffe ein Klima des Misstrauens, die Behörden seien deshalb dafür verantwortlich, "richtig und verlässlich über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu informieren".

Auch Omar Rábago sieht die Regierenden in der Pflicht. Die Hälfte der Angriffe auf Pressevertreter sei von staatlichen Kräften ausgegangen: von Polizisten, Militärs oder Beamten. "Der Staat muss aufhören, Medienschaffende anzugreifen, und endlich seine Verpflichtung erfüllen, diese zu schützen", fordert er. Zugleich verweist er auf das "Gesetz zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern", das im Frühjahr verabschiedet wurde. Betroffene können nun staatliche Maßnahmen anfordern, wenn sie bedroht oder verfolgt werden. "Ein guter Schritt", findet Rábago, nun gelte es, das Gesetz in die Praxis umzusetzen.

Autorin Cacho wollte sich nicht darauf verlassen, dass Beamte für ihren Schutz sorgen. Vor wenigen Wochen hat sie das Land verlassen. Vorläufig, wie sie betont: "Wir arbeiten an einer neuen Sicherheitsstrategie. Niemand vertreibt mich aus meinem Zuhause."

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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