Amnesty Journal Syrien 23. Mai 2012

Operation Freiheit

Aufmarsch der Versehrten. Feier zum Jahrestag der Revolution.

Aufmarsch der Versehrten. Feier zum Jahrestag der Revolution.

Syrische Flüchtlinge im Libanon berichten über Folter, Hinrichtungen und Scharfschützen in ihrem Heimatland. Dem Terror in Syrien sind sie entkommen, aber im Libanon sind sie nicht willkommen.

Von Carsten Stormer

Als jede Schraube in den Fuß gedreht, die Schusswunde verbunden ist und der Mann mit dem Trümmerbruch im Unterschenkel zu schreien aufgehört hat, steht Doktor Ahmed erschöpft auf dem Flur des Krankenhauses zwischen den Zimmern mit den Schwerverletzten und überlegt, welchen Patienten er als nächstes behandeln soll. In Zimmer 532 liegt die 13-jährige Ghafran Koukaz. Ihr Vorname bedeutet Erbarmen. Der Scharfschütze, dessen Kugel ihr den Oberschenkel durchschlug und die Nerven durchtrennte, zeigte kein Erbarmen, als er von seinem Versteck aus auf das Mädchen zielte. Nebenan, in Zimmer 533, liegt der 22-jährige Hassan, der auf der Flucht aus Syrien auf eine Landmine trat. Die Explosion riss ihm beide Hände ab und in seinem verschorften Gesicht stecken noch immer Schrapnellsplitter. Doktor Ahmeds Blick richtet sich nach links –- das Mädchen zuerst. Ein rosafarbener Teddybär steht umringt von Tablettenschachteln auf dem Nachttisch. Ghafran schläft, neben ihrem Bett wacht ihre Mutter. Doktor Ahmed streicht dem Mädchen durchs Haar. Mehr kann er nicht tun.

Der Arzt verwaltet die Leiden von 37 syrischen Verwundeten in einem Krankenhaus am Rande der nordlibanesischen Stadt Tripoli, das umgeben ist von unfertigen Wohnblocks und schlaglochgesäumten Straßen. Er ist ein großer, stämmiger Mann, dem das Neonlicht der Deckenbeleuchtung dunkle Ringe unter die müden Augen zeichnet und dessen Haut fahl wirkt wie vertrockneter Käse. Seit Tagen hat der 40-Jährige kaum geschlafen – nur ein paar Stunden auf dem Boden neben dem Bett eines Patienten oder bei Bekannten in einer überfüllten Wohnung, mit einem Dutzend anderen Flüchtlingen in einem Raum. Seinen Besitz, zwei Plastiktüten mit Kleidung zum Wechseln, trägt er immer bei sich.

Doktor Ahmed ist ebenfalls Syrer, er floh Anfang März aus der Stadt Homs. Dort war er einer von dreißig Rebellenärzten, die versuchten, in geheimen Wohnungen, die als Feldlazarette dienten, die Kollateralschäden des syrischen Aufstandes notdürftig zu versorgen: Kinder mit Kopfschüssen, Frauen mit offenen Bauchwunden und schwerverletzte Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA). Es gab sechs mobile Teams, jeweils bestehend aus fünf Ärzten, die in verschiedenen Stadtteilen operierten und wie Maulwürfe durch in die Wände geschlagene Löcher von Haus zu Haus huschten. Doktor Ahmed setzt sich auf eine abgesessene Besucherbank, in seinen zittrigen Händen hält er eine Tasse, in der goldbrauner Tee schwappt. Mit leiser Stimme erzählt er, was er in Syrien erlebte.

Als die ersten Menschen auf die Straße gingen, um gegen das syrische Regime zu demonstrieren, arbeitete Doktor Ahmed noch als Chirurg in einem Regierungskrankenhaus in Homs. "Täglich kamen mehr Verletzte ins Krankenhaus", erzählt er. "Viele wurden vom Operationstisch weg verhaftet." Einmal habe der Luftwaffengeheimdienst einen Mann mit offener Bauchdecke festgenommen, noch während er ihn operierte. "Keine Sorge, wir werden die Wunde für Dich schließen", habe ein Agent gesagt. "Am nächsten Tag lag die Leiche des Mannes vor dem Haus seiner Familie." Das war der Moment, als er beschloss, sich den Aufständischen anzuschließen. Er versteckte seine Familie bei Freunden und ging in den Untergrund.
Viele Patienten starben, weil es keinen Strom gab, keine Medikamente, Betäubungsmittel, Beatmungsgeräte oder Operationsbesteck.

Weil das provisorische Hospital, ein Apartment im Stadtteil Baba Amr, immer wieder mit Granaten beschossen wurde, versteckten die Ärzte die Patienten in umliegenden Wohnungen. Oft blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Verwundeten hilflos beim Sterben zuzuschauen. "Manche konnten wir retten", sagt Doktor Ahmed und ein Lächeln schmuggelt sich in sein müdes Gesicht. Ende Februar, als der Beschuss zu heftig wurde, verließ er das Stadtviertel Baba Amr mit zwölf Verletzten, drei von ihnen lagen im Koma. Zwei Tage lang waren sie auf der Flucht, immer nur nachts. Tagsüber wurden sie mit Granaten beschossen und versteckten sich in Feldern und Gräben. Von den zwölf Verwundeten starben acht auf der Flucht.
Nun ist Doktor Ahmed im sicheren Libanon und hilft aus,
wo er kann. Er wechselt Verbände, richtet Brüche, operiert oder nimmt Gliedmaßen ab, hier oben im fünften Stock des Krankenhauses, auf der Suche nach Ablenkung und dem Gefühl, nützlich zu sein. Nützlich für die Revolution – und um sein Gefühl der Ohnmacht durch Arbeit zu bekämpfen. Die libanesischen Ärzte dulden ihn.

Opfer des Krieges
Die Flüchtlinge kommen in ein Land, dass sie nicht haben möchte. Im Libanon gibt es keine Flüchtlingslager wie in der Türkei. Es fehlt den syrischen Flüchtlingen an Decken, warmer Kleidung, Milch für die Kinder und Medikamenten. Sie sind Flüchtlinge dritter Klasse. Durchhalten gelingt nur mithilfe mitfühlender Libanesen, die Flüchtlinge in ihre Wohnungen aufnehmen und das wenige, was sie besitzen, teilen. Tripoli ist eine zentrale Anlaufstelle für die syrischen Flüchtlinge. In den Krankenhäusern der Stadt liegen die Opfer des Krieges. Sie berichten von Massakern an der Zivilbevölkerung. Von Scharfschützen, die wahllos auf jeden schießen, der sich aus dem Haus traut. Von tagelangen Bombardierungen der Wohnviertel. Von Demonstranten, die auf offener Straße exekutiert werden. Von Toten, die zur Abschreckung in den Straßen verwesen. Die meisten Flüchtlinge wollen anonym bleiben, weil sie selbst im Libanon den langen Arm des Assad-Regimes fürchten. Oppositionelle und Flüchtlinge sollen in den vergangenen Monaten immer wieder vom syrischen und libanesischen Geheimdienst aufgegriffen und nach Syrien ausgeliefert worden sein.

Alle erzählen dieselben Geschichten. Es sind Männer und Frauen, Junge und Alte, die meisten von ihnen Sunniten. Sie wurden in die Aufstände des arabischen Frühlings hineingezogen, der in Syrien zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren droht. Viele von ihnen stammen aus der Stadt Homs, einer der Hochburgen des Widerstands gegen das Assad-Regime, die wochenlang von der syrischen Armee belagert und mit Granaten beschossen wurde, abgeriegelt von der Außenwelt, ohne Strom, Wasser, medizinische Versorgung und Telefonverbindung.

Die libanesische Regierung befindet sich in einer Zwickmühle. Einerseits ist sie mit der syrischen Regierung verbündet und warnt deshalb syrische Deserteure davor, sich in den Libanon abzusetzen. Andererseits will sie es sich nicht mit den anderen arabischen Nachbarn verscherzen, indem sie Flüchtlinge nach Syrien ausweist. Wer es von Syrien in den Libanon schafft, wird als Gast angesehen, nicht als Flüchtling, und bekommt sechs Monate Aufenthaltsrecht. So wird das humanitäre Gesicht gewahrt und ein diplomatischer Eklat vermieden. Syrische Aktivisten im Libanon schätzen, dass schon etwa 20.000 Flüchtlinge in den Libanon gelangt sind. Und täglich werden es mehr. Trotzdem sieht das libanesische Rote Kreuz keinen Handlungsbedarf. Hunderte warten an den offiziellen Grenzübergängen auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Andere lassen sich von Aktivisten oder Angehörigen der FSA an Landminen, Grenzposten und Armeepatrouillen vorbei in den Libanon schmuggeln.

Die Flüchtlinge hausen am Rande der Legalität in Wohnungen, die ihnen Helfer der Aktivistennetzwerke besorgt haben, in Schulen, in Geschäften oder in den Slums am Stadtrand. Mehrere Familien müssen sich wenige Quadratmeter teilen, Wohnraum ist knapp, die Mietpreise explodieren. Das Leben dreht sich um Neuigkeiten und Gerüchte: Gab es neue Kämpfe oder Angriffe? Wie geht es den Familienangehörigen in Syrien, sind sie noch am Leben?

Schüsse in die Luft
Feiras Abo Oday ist in einer Sackgasse gelandet, Endstation Tripoli. Er kauert an einem wackeligen Tisch und saugt den Rauch seiner Zigarette tief in die Lunge. Tränen laufen ihm über das Gesicht und er macht eine Handbewegung, als wolle er die Erinnerungen wegwischen wie einen Schmutzfleck. Seit seiner Flucht aus Syrien arbeitet er in der Teestube eines syrischen Bekannten an der Corniche, der Uferpromenade von Tripoli. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen, er hat Angst vor syrischen Agenten, vor Spitzeln, vor dem libanesischen Geheimdienst. Der 26-Jährige war fast zwei Jahre lang Wehrpflichtiger in der syrischen Armee. Während dieser Zeit wurde er an einer Straßensperre in Daraa versetzt, jener Stadt im Süden Syriens, in der der Aufstand begann. "Unsere Offiziere sagten uns, dass wir auf die Terroristen schießen sollen. Ich habe aber keine Terroristen gesehen, nur Menschen, die friedlich demonstrierten." Oday kann nicht fassen, was er während dieser Zeit sieht: wie sein Vorgesetzter einen alten Mann erschießt und ein Kamerad exekutiert wird, weil er sich weigerte, einen gefangenen Demonstranten zu erschießen. Ein Deserteur wird standrechtlich hingerichtet. Oday will seine Einheit verlassen, will zu den Rebellen der FSA überlaufen, aber es gelingt ihm nicht.

Wie so viele in seiner Einheit habe er nicht auf Demonstranten geschossen, nur in die Luft oder auf Mauern, sagt er. Wegen Befehlsverweigerung kam er im Juli 2011 in das berüchtigte Sydnaia-Militärgefängnis in Damaskus. Dort mussten dreißig Gefangene auf dreißig Quadratmetern auf dem Bauch liegen, die Augen waren ihnen verbunden und die Handgelenke an die Fußknöchel gekettet. Der jüngste Gefangene sei 13 Jahre alt gewesen. Sie verbrachten endlose Stunden und Tage in dieser Po­sition, nur unterbrochen von Verhören und Folter. "Ich wurde nackt in einen Autoreifen gezwängt, an der Decke aufgehängt und mit Stöcken und Kabeln so lange geschlagen, bis ich meine Arme und Beine nicht mehr spürte", sagt er.

Dulab heißt diese Foltermethode: Der Reifen. Oday beginnt zu weinen, wischt sich über das Gesicht, holt tief Luft. "Ich konnte mich nicht einmal mehr alleine anziehen." Nach 16 Tagen muss Oday ein Dokument unterschreiben, in dem steht, dass ihm während der Haft nichts angetan wurde. Außerdem verpflichtet er sich, Kameraden, die sich weigern, auf Demonstranten zu schießen, seinen Vorgesetzten zu melden. Dann wird er entlassen und kehrt zurück in seine Einheit. Im Oktober 2011 endet sein Wehrdienst, im November flieht er, aus Sorge wieder eingezogen zu werden, in den Libanon. Mit 400 Dollar besticht er einen Grenzbeamten, um einen Ausreisestempel zu bekommen. Am liebsten würde sich Oday der FSA anschließen. "Ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber ich habe nicht genug Geld, um mir eine Kalaschnikow zu kaufen."

Befreites Gebiet
Am ersten Jahrestag der syrischen Revolution trommelt der Regen unaufhörlich gegen die Fenster des Krankenhauses in Tripoli. Doktor Ahmed sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Klappstuhl neben dem Bett eines Patienten. Er ist eingeschlafen, sein Kopf ist auf die Brust gesunken. Um ihn herum herrscht aufgeregtes Treiben. Männer mit Arm- und Beinstümpfen malen Plakate. Sie wollen den Jahrestag feiern. Ein Fernsehteam von Al Jazeera wird erwartet, um die Zeremonie zu filmen. Es ist Freitag und wie ihre Landsleute in der Heimat wollen sie auch hier demonstrieren.

Einer der Patienten ist Abu Jaman. Er träumte elf Monate lang von einem freien Syrien und wachte dann im Operationssaal eines libanesischen Krankenhauses auf. Der 36-Jährige hat ein ausgemergeltes Gesicht und trägt einen verwilderten Bart. Mit glänzenden Augen verfolgt er das Treiben auf der Station, von seiner Schulter baumelt ein Schal in den Farben der Revolution: Grün, Weiß und Schwarz mit drei Sternen. Sein linker Arm ist oberhalb des Ellenbogens amputiert und steckt in einem schmutzigen Verband, in seiner Brust und seinem Bauch befinden sich noch Metallsplitter einer Granate. Eine Zigarette klemmt zwischen Abu Jamans Lippen, obwohl die Stationsschwester das Rauchen verboten hat. Aber Station 5 ist befreites Gebiet, ein Stück Revolution, so sehen es die Patienten.

Abu Jaman brachte im Granathagel Verwundete in die Feldlazarette der Rebellen. Als er ein Kind retten wollte, explodierte neben ihm eine Panzergranate. Ein Schrapnellsplitter trennte seinen Arm ab, das Kind starb. Dass er seinen Arm verloren habe, sei nicht so schlimm, das sei sein Beitrag zur Revolution, sagt er. "Aber dass ich das Mädchen nicht retten konnte, belastet mich. Ich denke jeden Tag an sie."

Um sieben Uhr beginnen die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Aufstandes. Ein Aufmarsch der Krüppel und Versehrten, die Plakate in die Luft halten, syrische Fahnen schwenken und Parolen rufen: "Nieder mit Assad! Freiheit für Syrien! Allahu Akbar! Allahu Akbar!" Junge Männer, in der einen Hand einen Katheter, in der anderen das Gestell an dem ein Infusionsbeutel hängt, laufen von Zimmer zu Zimmer und dirigieren mit lauten Gesten. Andere stützen diejenigen, die nicht allein laufen können, schieben Rollstühle, führen Blinde. Besucher bringen eine Torte vorbei, darauf ist aus weißem Zuckerguss geschrieben: "Möge Gott deine Seele verdammen, Assad". Milchigweiße Rauchschwaden von unzähligen Zigaretten hängen im Raum. Die Menschen singen und klatschen in die Hände, bis sie heiser sind und ihre Handflächen brennen. Die Menge putscht sich in Euphorie und Rage, die Journalisten von Al Jazeera filmen. Und irgendwann wacht auch Doktor Ahmed von dem Lärm auf. Er ist zu müde und zu erschöpft, zu klatschen, aber ein leises Lächeln umspielt seine Lippen. Dann murmelt er "Freiheit für Syrien" und macht das Victory-Zeichen.

Der Autor ist Journalist und lebt in Manila.

Systematische Folter
Wer bei den Verhaftungswellen in Syrien festgenommen wurde, landet in einer Albtraum-Welt, die von systematischer Folter bestimmt ist. Dies belegen Schicksale, die Amnesty International in einem neuen Bericht dokumentiert. Darin beschreiben Überlebende und Augenzeugen 31 Methoden, wie syrischen Sicherheitskräfte, Militär und regierungstreue Banden, sogenannte "Shabiha", systematisch Folter gegen Demonstranten einsetzen.Demnach folgen die Misshandlungen von Inhaftierten ­einem bestimmten Muster. Viele Opfer berichten, dass sie beim "Empfang" in den Haftzentren mit Stöcken, Gewehrkolben, Peitschen, Fäusten und Seilen geschlagen wurden. Das größte Risiko besteht jedoch während der Befragung. Überlebende erzählten, dass sie in einen ­Autoreifen gezwängt, aufgehängt und mit Stöcken und ­Kabeln misshandelt wurden. Weit verbreitet sind Misshandlungen mit Elektroschocks und die Vergewaltigung von Gefangenen.

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