Amnesty Journal Mexiko 19. Mai 2011

Im Haus der Armen

Gewalttätige Soldaten, Drogenmafia und korrupte Beamte: Im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero kämpfen die Aktivisten des Menschenrechtszentrums "Tlachinollan" für bessere Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung. Manchmal gelingen ihnen überraschende Erfolge.

Von Wolf-Dieter Vogel

Sie kamen am frühen Morgen. Eulogio Cayetano und sein Sohn Bertario saßen gerade beim Kaffee, als die Soldaten das Haus stürmten. "Scheiß Indios", riefen
die vermummten Eindringlinge. "Wo ist das Opium, wo sind die Waffen?" Dann warfen sie Bertario zu Boden und drückten dem jungen kräftigen Mann einen Gewehrhals in den Rücken. "Ich dachte, sie bringen ihn um", sagt seine Mutter ­Maria Cayetano. Sie beginnt zu weinen, kein Wort kommt mehr über ihre Lippen.

Noch immer sitzt der Schock tief, diese Angst, die sie überfiel, als die Militärs sie in der Küche einschlossen, während nebenan das sechs Monate alte Enkelkind schrie.
Eine Woche ist es her, dass rund 40 Soldaten die indigene ­Familie aus dem südmexikanischen Bundesstaat Guerrero ­überfallen haben. Nun sitzen "Don Eulogio", "Doña Maria" und ihr Sohn Bertario Cayetano hier im Menschenrechtszentrum "Tlachinollan". Die Wege in der Region La Montaña sind lang. Steinige Fußpfade, schlechte Straßen und alte Busse erschweren die Reise durch die von Dürre geprägte Gegend, spätestens ab zehn Uhr drückt die Sonne. Rund dreieinhalb Stunden waren sie unterwegs, um von der Laguna Seca, dem "trockenen Teich", in das Büro in der Kleinstadt Tlapa zu gelangen. Mit Santiago Aguirre, einem der acht Anwälte und Anwältinnen von "Tlachinollan", wollen sie an diesem Morgen bei der Menschenrechtskommission eine Klage einreichen.

"Das Militär soll uns unsere Sachen zurückgeben", fordert Eulogio Cayetano. 10.000 Pesos (rund 600 Euro) – die Einnahmen seines Ladens – hätten die Soldaten unter anderem mitgehen lassen. Sein Leben lang habe er redlich gearbeitet, betont der 59-Jährige, und nie habe die Familie etwas mit den Mohnfeldern zu tun gehabt. Und jetzt das: Wie aus dem Nichts hatten die Soldaten 500 Gramm Opium sowie ein Kilo Mohnsamen hochgehalten. "Dann zwangen sie uns, eine Bestätigung des Fundes zu unterschreiben." Mit jedem Satz wird er zorniger.

Er spricht vom Krieg gegen die Indigenen, den Präsident Felipe Calderón mit seiner militärischen Mobilmachung gegen die Drogenmafia ausgelöst habe. Und von den vielen anderen, die keine Anzeige erstatten, weil sie kein Spanisch sprechen. Hier in diesen Räumen kann er offen reden. Ohne Angst. Denn "Tlachinollan" ist für ihn das "Haus der Armen". Längst hat sich der Warteraum des viergeschossigen Gebäudes gefüllt. Selbst auf der Straße stehen noch einige Frauen, Männer und Kinder. Sie sind gekommen, weil sie hier finden, was ihnen sonst niemand bietet: kostenlose juristische Beratung sowie solidarische Begleitung, wenn nötig mit Übersetzung in die indigenen Sprachen Me’Phaa, Amuzgo oder Nahuatl. Und die Sicherheit, nicht von korrupten Beamten, Kriminellen oder Kaziken, den örtlichen Machthabenden, übers Ohr gehauen zu werden.

Fotos an den Wänden zeugen von den vielen Aktivitäten des Zentrums: Ein kleiner Junge hält ein Transparent für den "Kampf um unseren Boden" in die Höhe, andere fordern auf einer Demonstration die Freilassung politischer Gefangener. Ein Poster zeigt zwei indigene Frauen. Ihr wütender und dennoch nicht verbitterer Blick unterstreicht die Forderung des Plakats: "Durchbrecht die Mauer der Straflosigkeit."

Soldaten zerstörten ihr Leben

Zwei Frauen – Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú – stehen derzeit wie kaum andere in Mexiko dafür, dass Soldaten für ihre Verbrechen an der Zivilbevölkerung zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Jahrelang kämpften sie für ihr Recht – unterstützt von den Menschenrechtsverteidigern in Guerrero. Wir aber treffen Valentina Rosendo Cantú weit entfernt von ihrer Heimat, im Hinterhof einer mexikanischen Großstadt, zwischen vierspurigen Straßen, hohen Mauern und gefährlich angebrachten Stromleitungen.

Schon lange kann sie nicht mehr nach Barranca Bejuco zurück, jenem Dorf in der Küstenregion Costa Chica, in dem sie aufgewachsen ist. Dort, wo am 16. Februar 2002 alles begann. Die damals 17-Jährige wusch gerade Wäsche im Fluss, als acht Soldaten kamen. Wo die Guerilleros seien, wollten sie wissen. Dann vergewaltigten zwei der Männer die junge Frau, die Monate zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte. "Danach konnte ich kaum mehr stehen und hatte Fieber." Wie oft schon hat sie das alles erzählt? Wie sie zum Arzt ging, der sie nicht behandelte, weil er keinen Ärger mit der Armee bekommen wollte.

Wie sie acht Stunden in die Kleinstadt Ayutla gelaufen war und auch dort im Krankenhaus abgewiesen wurde. Und wie sie sich bei den Behörden darum bemühte, dass gegen ihre Vergewaltiger ermittelt wird. "So etwas tun die Soldaten nicht", hatten ihr Beamte der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte erklärt. Dabei hatte sie die Täter sogar auf Fotos wiedererkannt. Aber ohnehin seien für Vorwürfe gegen Armeeangehörige nur Militärgerichte zuständig. "Sie machten sich über mich lustig, weil ich damals fast nur Me’Phaa sprechen konnte."

Ganz ruhig redet die 26-Jährige, entschlossen, emotional, aber nicht verzweifelt. Und in bestem Spanisch. Sie hat sich verändert in diesen Jahren. In ihrem beige-grauen Pullover, mit der Armkette und den geschminkten Lippen wirkt sie städtisch, weit weg von Barranca Bejuco. Ans Aufgeben denkt sie nicht. Dabei haben die Ereignisse sie in eine schier hoffnungslose Situation getrieben. Soldaten kamen in die Gemeinde und wollten erzwingen, dass sie ihre Anzeige zurückzieht. Dorfbewohner wandten sich von ihr ab, nachdem man ihnen drohte, die Sozialleistungen zu streichen. Und dann wurde sie von ihrem eigenen Mann verlassen. Sie sei nichts mehr wert, weil sie vergewaltigt worden sei, hatte er ihr erklärt.

Schließlich kehrte Valentina Rosendo Cantú mit ihrer Tochter der Gemeinde den Rücken. Dennoch ließ man sie nie in Ruhe: Unbekannte observierten und bedrohten die junge Mutter, man versuchte, ihre Tochter von der Schule zu werfen. Vertrieben aus der Heimat, lebt Valentina Rosendo Cantú nun in der Stadt, wo sie nicht so schnell ausfindig gemacht werden kann. "Die Regierung hat mein Leben zerstört", sagt die junge Frau, "nicht nur wegen der Vergewaltigung, sondern auch, weil ich nicht mehr als ganz normale Frau mit meiner Familie weiterleben kann".
Trotz allem zog sie mit Inés Fernández Ortega, die auch von Soldaten vergewaltigt worden war, bis vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in San José, Costa Rica.

Dort gaben ihr die Richter im Oktober 2010 Recht. "Nun muss die mexikanische Regierung dafür sorgen, dass die beiden vollständig rehabilitiert werden", erklärt Tlachinollan-Anwalt Aguirre, der die beiden juristisch begleitet. Die Vorgaben des Gerichts sind eindeutig: Die Taten müssen vor einem Zivilgericht verhandelt werden, der Staat muss die Opfer entschädigen und die besonderen Konsequenzen berücksichtigen, die solche Verbrechen in indigenen Gemeinden hervorrufen. "Wenn das umgesetzt wird, kann ich vielleicht wieder zurück nach Barranca Bejuco", hofft Valentina Cantú. "Denn dann glauben mir die Leute, dass ich nicht gelogen habe." Bislang jedoch, erläutert Aguirre, umgehe die Regierung das Urteil mit juristischen Spitzfindigkeiten.

Mit dem Hunger leben

Abel Barrera verbirgt seinen Zynismus nicht, wenn es um die Regierenden in Mexiko-Stadt geht. "Die unterschreiben jeden internationalen Vertrag, den man ihnen unter die Nase hält, doch halten tun sie sich an nichts", sagt der 50-Jährige. Der kleine, kräftige Mann leitet das Menschenrechtszentrum. Es ist nicht einfach, ihn zu treffen. Ständig ist er unterwegs, vom Termin bei der örtlichen Staatsanwaltschaft zur Versammlung nach Mexiko-Stadt und weiter zum Besuch einer Gemeinde in den Bergen. Das Urteil von San José sei ein wichtiger Schritt, bestätigt er. "Aber der wirkliche Erfolg ist, dass zwei Frauen aus dem Volk der Me`Phaa zu Protagonistinnen der Verteidigung ihrer Menschenrechte geworden sind." Was könne man im Einsatz für Menschenrechte Besseres erreichen? Dennoch betont Barrera: "Die Leute kennen uns hier nicht, weil wir vor internationale Gerichte ziehen, sondern weil wir dort sind, wo sie sind: in ihren Gemeinden, in ihren Häusern, in den Bergen."

Ortstermin in Chiepetepec, etwa 45 Autominuten von Tlapa entfernt. Hier ein paar grüßende Worte aus dem Wagen, dort ein Handschlag, wenige Meter später noch ein kurzes Gespräch – Abel Barrera ist in der Gegend bestens bekannt. Esel kreuzen den steinigen Fußweg zu Aureliana Díaz, der Pfad zu ihrem Zuhause führt vorbei an brüchigen Holzhütten und der einzigen Quelle des Dorfes. Fließend Wasser haben nur die wenigsten. Zwei mit blauer Farbe gestrichene große Häuser zeigen, dass hier Familien leben, deren Söhne es in den USA zu etwas gebracht haben. Nur wer genug Dollars aus dem Norden bekommt, kann solche Häuser bauen.

Aureliana Díaz kam nur bis in den Nachbar-Bundesstaat Morelos. Dort erntete sie grüne Bohnen. Zwölf Stunden am Tag, für hundert Pesos. So wie ihr Mann, doch der starb dort vor sechs Jahren bei einem Autounfall. Mit ihrer Familie lebt sie in einem aus Sandsteinen gemauerten Haus, dessen Wellblechdach an vielen Stellen nur notdürftig mit blauen Plastikplanen geflickt ist. 15 Menschen wohnen hier in zwei Zimmern: sie, die Eltern, zehn Kinder sowie Aurelianas Bruder und dessen zwei Frauen. Eine Glühbirne spendet ein wenig Licht in dem fensterlosen Raum. Land, um Mais anzubauen, hat die Familie nicht, und das Geld, das die Männer als Bauarbeiter verdienen, reicht hinten und vorne nicht.

Aureliana Díaz zeigt auf einen Dachbalken, auf dem ein paar frisch gefertigte Strohhüte liegen. "Jeden Tag flechten wir fünf Sombreros, das bringt 15 Pesos ein", sagt die 30-Jährige. Und dann ist da noch das Sozialprogramm "Oportunidades" – 800 Pesos alle zwei Monate für jede Mutter im Haushalt. Doch mit den Zahlungen gibt es gerade Probleme. "Da müssen wir mit dem Zuständigen reden", beruhigt Abel Barrera und bittet um ein paar Unterlagen, bevor es zurückgeht nach Tlapa. "In La Montaña zu leben, heißt mit Hunger zu leben, krank geboren zu werden und immer von Krankheiten begleitet zu werden", sagt er und spricht von der Diskriminierung, davon, dass die Indigenen in der mexikanischen Gesellschaft im Verborgenen vegetieren. "Es ist diese stille Gewalt, die die Menschen hier tötet."

Als Tagelöhner in den Norden

Zu wenig Nahrung, fehlende Lehrer und eine schlechte Gesundheitsverorgung seien die Probleme, gegen die man zuerst kämpfen müsse, erläutert Barrera, dann muss er weiter, zum nächsten Termin. Einige Mitarbeiter von Tlachinollan machen sich indes mit uns auf den Weg nach Mini Numa, einer weiteren Gemeinde in den Bergen von La Montaña. Nachdem Kinder im Dorf wegen fehlender medizinischer Versorgung starben, setzten die Aktivisten gemeinsam mit den Bewohnern durch, dass eine Gesundheitsstation eröffnet wird. Und nun verlegen sie Rohre und bauen Toilettenhäuschen, um Krankheiten vorzubeugen.

Dennoch sind Mauricio Montealegre und die anderen Männer aus Mini Numa, die sich an diesem Nachmittag vor dem Gemeindehaus treffen, gegenüber Fremden zunächst zurückhaltend. Zu oft schon sind sie betrogen worden. Etwa, als plötzlich Bauarbeiter kamen, eine Straße bauten und Häuser zerstörten, ohne die Bewohner zu fragen. Nun planen auch noch Minenunternehmen, in den Bergen Gold, Silber und Zink abzubauen. Und wieder wollte niemand wissen, was die Leute in Mini Numa davon halten.

Mehr interessierten sich die Beamten dafür, wer hier in den Bergen Drogen anbaue. "Woher soll ich das wissen, jedem sein Feld, jedem seine Arbeit", hatte Mauricio Montealegre damals geantwortet. Aber von was soll man leben? Eine Maisernte im Jahr, das bringt gerade einmal Tortillas für vier Monate. "Mehr geben Klima und Boden nicht her", sagt er. Elf Kinder hat er groß gezogen und zum Glück sind vier von ihnen in New York. Denn ohne deren Geld ginge gar nichts. Praktisch keine Familie kann ohne die Überweisungen leben und wer nicht bis in die USA kommt, geht als Tagelöhner in die großen Plantagen des mexikanischen Nordens.

Während der Saison fährt aus Tlapa jeden Morgen ein Bus mit 40 bis 50 Menschen ab , berichten Mitarbeiter von "Tlachinollan". In der Erntezeit, von September bis Januar, informiert das Zentrum die Saisonarbeiter in einer Kantine über ihre Rechte, bevor sich die "Jornaleros", die Tagelöhner, auf den Weg machen. Wer jedoch immer fernab der Heimat ist, kann zu Hause kein Feld bestellen, erklärt Tlachinollan-Mitarbeiter Roberto Gamboa Vázquez. "Und wer hier bleibt, wird mit dem Anbau von Mais oder Bohnen nicht weit kommen." Ein Teufelskreis. Was die Menschenrechtsverteidiger tun können? "Die strukturellen Probleme werden wir nicht lösen", antwortet Gamboa. "Aber wir können helfen, die Lebensbedingungen zu verbessern." Nicht mehr, aber auch nicht weniger. In seiner Stimme ist eine Spur Verbitterung zu hören.

Der Bundesstaat Guerrero

Guerrero liegt im Süden Mexikos und ist der drittärmste Bundesstaat des Landes. 85 Prozent der Gemeinden sind in der kleinbäuerlichen Wirtschaft tätig, an der Pazifikküste leben viele vom Tourismus. 130.000 Menschen reisen jedes Jahr in andere Bundesstaaten, um dort saisonal als Tagelöhner in der Agrarindustrie zu arbeiten, eine knappe Million lebt in den USA. 60 Prozent des in Mexiko kultivierten Schlafmohns zur Herstellung von Opium wird in Guerrero angebaut. Von den drei Millionen Einwohnern des Bundesstaates sind 17,2 Prozent Indigene. Die meisten von ihnen leben in den Regionen La Montaña und Costa Chica. La Montaña ist nach UNO-Angaben eine der ärmsten Regionen weltweit. Eines von fünf Kindern stirbt, bevor es sechs Jahre alt wird. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 40 Jahren. Die Hälfte der indigenen Einwohner sind Analphabeten. 40 Prozent der von Indigenen bewohnten Häuser haben keinen festen Boden.

Militärisches Sonderrecht

Nach einem Sonderrecht werden in Mexiko von Armeeangehörigen verübte Verbrechen nur vor Militärgerichten verhandelt – ein wichtiger Grund für die hohe Straflosigkeit im Land. Nur selten werden Soldaten zur Verantwortung gezogen, und wenn, fallen die Urteile meist gering aus. Viele hohe Militärs, die für Folter, Mord und "Verschwindenlassen" von politischen Gegnern in den siebziger Jahren verantwortlich sind, mussten nie für ihre Taten büßen. Auch viele heute von Soldaten verübte Vergewaltigungen oder Misshandlungen bleiben deshalb ungesühnt. Mehrmals forderte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte eine Reform. Im Oktober 2010 kündigte Präsident Felipe Calderón Änderungen an: Folter, Vergewaltigung und "Verschwindenlassen" sollen künftig vor Zivilgerichten verhandelt werden. Diese Verbrechen machen jedoch nur fünf Prozent der von Militärs verübten Menschenrechtsverletzungen aus. Außergerichtliche Hinrichtungen sind beispielsweise von der Reform ausgenommen.

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