Amnesty Journal Deutschland 02. Oktober 2009

Amnesty History: Mit Brief und Stift gegen Schild und Schwert

Am 9. November 1989 läutete der Fall der Berliner Mauer das Ende der DDR ein. Amnesty International hatte sich bis ­zuletzt für politische Gefangene im SED-Staat eingesetzt.

Robert Havemann war einer der bekanntesten Dissidenten in der DDR. Im November 1976 stellten ihn die Behörden nahe Berlin unter Hausarrest, weil der Chemieprofessor die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann öffentlich kritisiert hatte. Amnesty International setzte sich fortan für seine Freilassung ein. Aktivisten schrieben Briefe an die Behörden, in mehreren Ländern schlossen sich Politiker, Schriftsteller und Journalisten den Forderungen an. Diesem stetig wachsenden internationalen Druck musste sich das SED-Regime im Mai 1979 geschlagen geben: Es hob den Hausarrest vorzeitig wieder auf.

Havemann war einer von insgesamt über 5.000 politischen Gefangenen in der DDR, für die sich Amnesty International bis 1989 engagierte. Sie standen exemplarisch für die insgesamt 175.000 bis 231.000 politischen Gefangenen im SED-Staat.

Die Menschenrechtsverletzungen in der DDR betrafen vor allem die politischen und bürgerlichen Rechte. Sie reichten von der Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit über das Verbot, sein Land jederzeit zu verlassen, bis hin zu schweren Misshandlungen in Haft, dem Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze oder der Todesstrafe. Doch auch die Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, beispielsweise die freie Berufs- und Studienwahl, wurde durch den parteikonformen Selektionsprozess und eine frühe Auslese von Schülern und Lehrlingen erschwert oder ganz verhindert.

Verantwortlich für viele dieser Menschenrechtsverletzungen war das "Schild und Schwert" des SED-Regimes, die Staatssicherheit. Sie übte eine totale Kontrolle über das Land und seine Menschen aus. Einschüchterung und das Gefühl der Unmündigkeit und Enge waren die Folge für viele Millionen Menschen in der DDR. Wer sich aus dieser Enge befreien wollte, zum Beispiel durch regimekritische Kunst oder Publikationen, machte sich strafbar. Die Prozesse fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und endeten in der Regel mit mehrjährigen Haftstrafen. "Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen", nannte Amnesty International diese Praxis in den achtziger Jahren.

Eine unabhängige Justiz existierte in der DDR nicht. Die Menschenrechte standen, wenn überhaupt, nur auf dem Papier. Und auch dieses wurde den Bürgern vorenthalten: Die Verbreitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der Menschenrechtspakte von 1966 oder der KSZE-Schlussakte von 1975 wurde verboten und akribisch verhindert. Gleichwohl rühmten sich die DDR-Vertreter auf dem internationalen Parkett, stets alle Menschenrechtsverträge erfüllt zu haben.

Die SED-Führung wich nie von ihrer Haltung ab, dass Amnesty International die DDR nur verleumden wolle und ein Handlanger des Westens sei. Deshalb verweigerten die Behörden die Gründung von Amnesty in der DDR sowie die Einreise ihrer Vertreter.

Dennoch erreichten zehntausende Amnesty-Briefe und Appelle mit der Forderung nach Haftentlassung, fairen Gerichtsprozessen und besseren Haftbedingungen aus über 30 Ländern die staatlichen Stellen in der DDR, von Neuseeland über die Färöer-Inseln bis nach Venezuela. Die Schreiben wurden von der Staatssicherheit abgefangen, registriert, ausgewertet und archiviert, nicht aber beantwortet.

Der Einsatz von Amnesty in der DDR war stets vom Ost-West-Konflikt zwischen den beiden Supermächten Sowjetunion und USA überschattet, der sich auch im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander widerspiegelte. Im politischen Schlagabtausch spielte die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte eine wichtige Rolle. Ost und West warfen sich gegenseitig vor, die Menschenrechte nicht genügend zu achten.

Amnesty-Gruppen aus der BRD sollten auf Wunsch des Internationalen Amnesty-Sekretariats in London nicht an den Aktionen zur DDR teilnehmen. In der Zentrale ging man zur Zeit des Kalten Krieges davon aus, dass die Appelle von der Staatssicherheit nur als "feindliche Aktionen der Bonner Republik" eingestuft werden würden – nicht aber als genuine Menschenrechtsanliegen einer internationalen Organisation.
Nach außen versuchten die DDR-Repräsentanten, Amnesty zu ignorieren.

Recherchen belegen aber, dass die Machthaber den Aktivitäten der Organisation keineswegs gleichgültig gegenüberstanden. In den 28 Jahren, in denen die 1961 gegründete Organisation zur DDR tätig war, stellte sie fest, dass sich die Haftbedingungen der von ihr betreuten Haftinsassen verbesserten. Die Mehrzahl der Amnesty bekannten politischen Gefangenen kamen vorzeitig frei. Als Reaktion auf die Forderungen der Menschenrechtsorganisation diskutierten die Machthaber, inwiefern sich die DDR internationalen Menschenrechtsstandards anpassen sollte, ohne die eigene Macht aufs Spiel zu setzen. Die internationale Anerkennung als "Friedensstaat" – wenn auch nur zum Schein – wurde groß geschrieben im SED-Staat.

Dass die Aktionen, Briefe, Appelle und der permanente internationale Druck auf der Ebene der Vereinten Nationen und im Rahmen der KSZE direkte und positive Konsequenzen für Inhaftierte und Angeklagte hatte, bestätigte im Juni 1978 auch der unter Hausarrest stehende Robert Havemann in einem Brief an Amnesty International: "Ich bin davon überzeugt, dass die Aktivitäten von Amnesty International in sehr wirksamer Weise dazu beitragen, die Willkür der Behörden zu zügeln. Darum ist eins der wichtigsten Mittel, um diese mittelalterlichen Zustände zu überwinden, dass jeder Fall von Rechtsbeugung und Unterdrückung, von widerrechtlicher Verfolgung und Freiheitsberaubung weltweit publik gemacht wird. Hierin hat Amnesty International schon außerordentlich viel geleistet".

Von Anja Mihr. Die Autorin ist Associate Professor am "Niederländischen Institut für Menschenrechte" der Universität Utrecht. 2002 veröffentlichte sie im Chr. Links Verlag die Studie "Amnesty International in der DDR – Der Einsatz für Menschenrechte im Visier der Stasi". Von 2002 bis 2006 war sie Vorstandsmitglied der deutschen Amnesty-Sektion.

Weitere Artikel