Amnesty Journal Russische Föderation 02. April 2009

Selbstverteidigung als Überlebensstrategie

Russland gilt als einer der gefährlichsten Arbeitsorte für Journalisten. Seit 1990 kamen hier mehr als 200 Medienvertreter gewaltsam zu Tode. Der "Novaja Gazeta" ist es bisher gelungen, sich als kritische Stimme zu behaupten.

Die Situation für Journalisten in Russland ist zunehmend schwieriger und gefährlicher geworden. Sich seine Unabhängigkeit zu bewahren, ist fast unmöglich", sagt Sergej Solowkin. Und: "Wer sich zu weit vorwagt und die Staatsmacht kritisiert, weiß, was er riskiert. Die Selbstzensur funktioniert daher bei vielen perfekt." Sergej Solowkin ist Mitarbeiter der "Novaja Gazeta" – einer der wenigen, noch verbliebenen oppositionellen Zeitungen in Russland. Im März 2002 entging der 56-Jährige nur knapp einem Mordanschlag und lebt seitdem als politischer Flüchtling in Deutschland.

Solowkin hatte noch Glück im Unglück. Doch andere be-zahlten ihr Engagement mit dem Leben. Am 21. Januar 2009 ­erschien die "Novaja Gazeta" mit einem ganzseitigen Foto, das den bekannten Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow in einer Blutlache liegend zeigt. Darunter stand: "Die Mörder haben keine Angst. Denn sie wissen, dass sie nie bestraft werden. Aber auch die Opfer haben keine Angst. Weil jemand, der eine andere Person verteidigt, aufhört, sich zu fürchten."

Zwei Tage zuvor war Markelow am helllichten Tag in Moskau auf offener Straße erschossen worden. Beim Versuch, dem Täter nachzusetzen, wurde auch die Journalistikstudentin und freie Mitarbeiterin der "Novaja Gazeta", Anastasia Baburowa, von mehreren Schüssen getroffen. Kurz darauf erlag die 25-Jährige, die vor allem zum Thema Rechtsextremismus in Russland ge­arbeitet hatte, im Krankenhaus ihren Verletzungen.

Die beiden jüngsten Morde zeigen wieder einmal, dass Russland zu Recht als einer der gefährlichsten Arbeitsorte für Journalisten gilt. Seit 1990 kamen hier mehr als 200 Medienvertreter gewaltsam zu Tode. Nur etwa jeder 20. Fall wurde aufgeklärt. Damit liegt das Land auf dem Index der US-NGO "Committee To Protect Journalists" (CPJ) auf dem neunten Platz weltweit.

Doch trotz des massiven Drucks vonseiten der Staatsmacht, die mittlerweile fast wieder alle elektronischen Medien fest im Griff hat, hat sich die "Novaja Gazeta" bisher als kritische Stimme behauptet. 1993 war das Blatt gegründet worden. Schon bald versammelten sich hier die besten Journalisten Russlands und berichteten über Themen, die der Leser in anderen Publikationen vergeblich suchte: Korruption bis in die höchsten Etagen der Politik, Menschenrechtsverletzungen sowie die Kriegsgräuel in Tschetschenien. 2000 forderte diese Art von investigativem Journalismus ihr erstes Opfer. Igor Domnikow, der zahlreiche Korruptionsfälle in den Regionen aufgedeckt hatte, wurde von unbekannten Tätern mit einem Hammer attackiert. Er starb zwei Monate später im Krankenhaus. 2007 wurden sieben Mitglieder einer kriminellen Bande wegen des Mordes an Domnikow verurteilt. Die Hintermänner der Tat blieben im Dunkeln.

Im Juli 2003 verlor die "Novaja Gazeta" ihren stellvertretenden Chefredakteur Juri Schtschekotschichin. Der 53-Jährige, der unter anderem über Verbindungen zwischen Steuerbetrügern und dem Inlandsgeheimdienst FSB recherchiert hatte, starb offiziellen Angaben zufolge an einer allergischen Reaktion. Einen Autopsiebericht bekamen seine Angehörigen jedoch nie zu Gesicht. Seine Kollegen gehen davon aus, dass er vergiftet wurde.

Am 7. Oktober 2006 wurde mit Anna Politkowskaja die bekannteste Mitarbeiterin der "Novaja Gazeta" vor ihrem Moskauer Wohnhaus getötet. Sie hatte sich vor allem mit Reportagen über Verbrechen russischer Soldaten sowie paramilitärischer tschetschenischer Gruppen während des Krieges in Tschetschenien einen Namen und bei den politisch Verantwortlichen extrem unbeliebt gemacht. Am 20. Februar 2009 sprach ein Moskauer Geschworengericht im ersten Politkowskaja-Prozess die vier Angeklagten frei. Die Drahtzieher blieben auch bei diesem Verfahren im Dunkeln. Nach dem Mord an Anna habe er sich überlegt, die Zeitung einzustellen, sagt der Chefredakteur Dmitri Muratow. Schließlich sei keine Geschichte es wert, dafür zu sterben. Die Redaktion entschied sich dafür, weiter zu machen.

Das tun Muratow und seine rund 30 Mitstreiter bis heute. Sie haben Kurse zur Selbstverteidigung absolviert und verstecken ihre Aufzeichnungen und Informationen an sicher geglaubten Orten. Einige Journalisten veröffentlichen ihre Beiträge nur unter Pseudonym. Ein Redakteur der Zeitung steht nach wiederholten Todesdrohungen ständig unter Personenschutz.

Derzeit hat die "Novaja Gazeta", die dreimal wöchentlich erscheint, eine Auflage von rund 270.000 Exemplaren. Das Überleben der Zeitung, die regelmäßig mit Verleumdungsklagen überzogen wird und deswegen bereits 2002 schon einmal vor der Schließung stand, sichern der letzte Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow sowie der Bankier und Duma-Abgeordnete der Partei "Einiges Russland" Alexander Lebedew.

Noch vor seinem Amtsantritt im Mai vergangenen Jahres hatte Russlands neuer Präsident Dmitri Medwedjew angekündigt, den Rechtsstaat stärken zu wollen, und dabei die Pressefreiheit als schützenswertes Gut bezeichnet. Dennoch wartete er nach dem jüngsten Doppelmord ganze zehn Tage, bevor er sich öffentlich äußerte. Medwedjew lud Muratow und Gorbatschow zu einer Audienz in den Kreml ein und drückte sein Bedauern über das Verbrechen aus. Er habe solange geschwiegen, um die Ermittlungen nicht zu beeinflussen, ließ er wissen.

Der "Novaja Gazeta"-Anteilseigner Alexander Lebedew forderte unlängst die russischen Behörden auf, den Mitarbeitern der Zeitung die Erlaubnis zu erteilen, Waffen zu tragen. Dmitri Muratow unterstützt diesen Vorstoß. "Entweder, wir verteidigen uns, oder wir schreiben nur noch über die Natur und Vögel, alles positive Dinge. Dann berichten wir eben nicht mehr über die Sicherheitsdienste, Korruption und Faschismus."

Von Barbara Oertel
Die Autorin ist Osteuroparedakteurin der "taz".

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