Amnesty Report 19. Februar 2017

Türkei 2017

Grafik des jährlichen Amnesty Reports 2016 / 2017

Die Regierung reagierte auf einen Putschversuch im Juli 2016 mit harten Maßnahmen gegen Staatsbedienstete und die Zivilgesellschaft. Im Visier standen insbesondere Personen, denen Verbindungen zur Fethullah-Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden. Nach dem Putschversuch wurde der Notstand ausgerufen, der zum Ende des Jahres weiter bestand. Bis Ende 2016 wurden mehr als 40000 Menschen in Untersuchungshaft genommen. Es gab Belege dafür, dass nach dem Putschversuch Festgenommene gefoltert wurden. Fast 90000 Staatsbedienstete wurden entlassen, Hunderte Medienunternehmen und NGOs geschlossen und Journalisten, Aktivisten und Parlamentarier inhaftiert. Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte blieben weiterhin straffrei, insbesondere im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten des Landes, wo in mehreren Städten 24-stündige Ausgangssperren galten.

Bis zu einer halben Million Menschen lebten als Binnenvertriebene im Land. Zur Unterbindung der Einreise von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus schlossen die EU und die Türkei einen "Migrationspakt". Das Abkommen führte u. a. dazu, dass Hunderte Flüchtlinge und Asylsuchende in die Türkei zurückgeführt wurden und die EU-Gremien deutlich weniger Kritik an der Menschenrechtslage im Land übten.

HINTERGRUND

Im Laufe des Jahres gelang es Präsident Recep Tayyip Erdoğan, seine Macht zu konsolidieren. Im Dezember 2016 legte er dem Parlament eine Reihe von Vorschlägen zur Änderung der Verfassung vor, die darauf abzielten, ihn mit exekutiven Befugnissen auszustatten.

Auch 2016 kam es – vor allem in den mehrheitlich von Kurden bewohnten östlichen und südöstlichen Teilen des Landes – zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und türkischen Streitkräften. In 53 Gemeinden ersetzte die Regierung gewählte Bürgermeister durch vom Staat bestimmte Verwalter.

49 der abgesetzten Bürgermeister gehörten der kurdischen Oppositionspartei DBP (Partei der Demokratischen Regionen) an. Im November 2016 wurden elf Parlamentarier der linksgerichteten pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) zusammen mit zahlreichen anderen lokalen gewählten Vertretern der Partei in Haft genommen. Die türkischen Behörden verhinderten eine UN-Ermittlungsmission in den Südosten des Landes. Auch nationale und internationale NGOs wie Amnesty International wurden daran gehindert, Menschenrechtsverletzungen in der Region zu dokumentieren.

Im März 2016 vereinbarten die EU und die Türkei einen "Migrationspakt" zur Verhinderung der Einreise von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus in die EU. In der Folge wurde die Kritik der EU an der Türkei im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen leiser.

Am 15. Juli 2016 starteten Teile des Militärs einen gewaltsamen Putschversuch, der schnell niedergeschlagen wurde – zum Teil auch dadurch, dass Zivilpersonen auf die Straße gingen und sich den Panzern entgegenstellten. Nach einer Nacht der Gewalt, in der das Parlament bombardiert und andere staatliche sowie zivile Einrichtungen angegriffen wurden, meldeten die Behörden 237 Tote und 2191 Verletzte. Unter den Toten befanden sich auch 34 Putschisten.

Nach dem Putschversuch rief die Regierung einen dreimonatigen Notstand aus, der im Oktober 2016 um weitere drei Monate verlängert wurde, und setzte damit eine Reihe von Bestimmungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus. Es wurden mehrere Durchführungsverordnungen verabschiedet, die nicht einmal die eingeschränkten Menschenrechtsstandards wahrten. Unter Berufung auf mutmaßliche Verbindungen zu einer terroristischen Organisation oder eine Bedrohung der nationalen Sicherheit wurden fast 90000 Staatsbedienstete entlassen, darunter Lehrer, Polizisten und Militärbedienstete, Ärzte, Richter und Staatsanwälte. Den meisten sollen Verbindungen zu Fethullah Gülen vorgeworfen worden sein, einem früheren Verbündeten der Regierung, der bezichtigt wurde, Drahtzieher des Putsches zu sein. Es war kaum möglich, gerichtlich gegen diese Entscheidungen vorzugehen. Mindestens 40000 Personen wurden in Untersuchungshaft genommen und beschuldigt, Verbindungen zu den Putschisten zu haben oder der Gülen-Bewegung anzugehören, die von den Behörden als terroristische Organisation (Fethullahçı Terör Örgütü) eingestuft wurde.

Im August 2016 startete die Türkei in Nordsyrien eine Militäroffensive gegen die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) und die "Volksverteidigungskräfte" (Hêzên Parastina Gel), eine der PKK nahestehende kurdische bewaffnete Gruppe. Im Oktober verlängerte das Parlament das Mandat der Türkei für die Durchführung militärischer Interventionen im Irak und in Syrien um ein weiteres Jahr.

RECHT AUF FREIE MEINUNGSÄUSSERUNG

Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde 2016 drastisch eingeschränkt. Nach der Ausrufung des Notstands wurden 118 Journalisten in Untersuchungshaft genommen und 184 Medienunternehmen per Regierungserlass willkürlich und dauerhaft geschlossen, so dass die oppositionelle Medienlandschaft massiv eingeschränkt war.

Wer sich gegen die Politik der Regierung aussprach, insbesondere in Bezug auf die Kurdenfrage, wurde bedroht, angegriffen und strafrechtlich verfolgt. Zudem wurde die Internetzensur verschärft. Im November 2016 mussten mindestens 375 NGOs, darunter Frauenrechtsgruppen, Anwaltsverbände und humanitäre Organisationen, aufgrund eines Regierungserlasses ihre Arbeit einstellen.

Im März 2016 stellte ein Gericht in Istanbul die regierungskritische Mediengruppe Zaman wegen laufender Antiterrorermittlungen unter die Aufsicht einer staatlichen Treuhandverwaltung. Nachdem die Polizei die Büros von Zaman gestürmt hatte, wurden sowohl in den Zeitungen als auch in den Fernsehsendern der Mediengruppe regierungsfreundliche Beiträge veröffentlicht. Im Juli wurden die zur Zaman-Gruppe gehörenden Medien und zahlreiche andere der Gülen-Bewegung nahestehende Medien dauerhaft geschlossen. Auch neue, nach der Übernahme der Zaman-Mediengruppe herausgegebene Formate wurden eingestellt.

Im Mai 2016 wurden der Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und der Hauptstadtkorrespondent der Zeitung, Erdem Gül, im Zusammenhang mit veröffentlichten Artikeln wegen "Offenlegung von Staatsgeheimnissen" zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. fünf Jahren Haft verurteilt. In den Artikeln war berichtet worden, dass die türkischen Behörden versucht hätten, in Lkw unbemerkt Waffen an bewaffnete Gruppen in Syrien zu liefern. Die türkische Regierung gab an, bei der Lieferung habe es sich um humanitäre Güter gehandelt, die für Turkmenen bestimmt gewesen seien. Das Rechtsmittelverfahren in dem Fall war Ende 2016 noch nicht abgeschlossen. Im Oktober 2016 wurden zehn weitere Journalisten unter dem Vorwurf, im Namen der Gülen-Bewegung und der PKK Straftaten begangen zu haben, in Untersuchungshaft genommen.

Im August 2016 schloss die Polizei die Redaktionsräume der wichtigsten kurdischen Tageszeitung, Őzgür Gündem. Ein Gericht hatte die Schließung wegen laufender Antiterrorermittlungen angeordnet, obwohl eine solche Sanktion gesetzlich nicht vorgesehen ist. Zwei Redakteure und zwei Journalisten wurden festgenommen und es wurden Strafverfolgungsmaßnahmen wegen terroristischer Straftaten gegen sie eingeleitet. Im Dezember kamen drei von ihnen wieder frei, der Chefredakteur İnan Kızıkaya blieb jedoch weiter in Haft. Im Oktober wurden alle wichtigen pro-kurdischen Medien, darunter auch Őzgür Gündem, per Dekret endgültig geschlossen.

Im Januar 2016 wurden die Unterzeichner eines Appells der Initiative Akademiker für Frieden zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen und Anerkennung der kurdischen politischen Bewegung zum Ziel von Gewaltandrohungen, behördlichen Untersuchungen und Strafverfolgungsmaßnahmen. Vier der Unterzeichner wurden bis zu ihrer Gerichtsverhandlung im April 2016 in Haft gehalten und dann wieder auf freien Fuß gesetzt, jedoch nicht freigesprochen. Zum Ende des Jahres waren 490 behördliche Untersuchungen gegen Unterzeichner anhängig, 142 weitere waren eingestellt worden. Nach dem Putsch hatte die türkische Justiz gegen mehr als 1100 Unterzeichner des Friedensappells strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.

Auch die Zensur im Internet nahm 2016 zu. Die Behörden erließen von der Justiz abgesegnete Anordnungen zur Entfernung oder Blockierung von Inhalten, darunter auch Webseiten und Accounts in sozialen Medien, wogegen es keine wirksamen Rechtsmittel gab. Im Oktober ließen die Behörden zahlreiche Internetdienste im Südosten des Landes abschalten und schränkten den Zugang zu verschiedenen sozialen Medien ein.

RECHT AUF VERSAMMLUNGSFREIHEIT

Zum vierten Mal in Folge verweigerten die Behörden aus zweifelhaften Gründen die Genehmigung für die traditionelle Demonstration am 1. Mai und zum zweiten Mal die für die Gay-Pride-Parade in Istanbul. Die Polizei ging mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Menschen vor, die diese Kundgebungen trotzdem friedlich durchführen wollten.

Nach dem Putschversuch im Juli 2016 stützten sich die Behörden auf verschiedene Bestimmungen der Notstandsgesetze, um in Städten im ganzen Land Demonstrationen pauschal zu verbieten. Auch hier ging die Polizei mit exzessiver Gewalt gegen Menschen vor, die trotz des Verbots ihr Recht auf friedliche Versammlung wahrnehmen wollten.

FOLTER UND ANDERE MISSHANDLUNGEN

Im Jahr 2016 häuften sich die Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam aus den Regionen im Südosten, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, und unmittelbar nach dem Putschversuch verstärkt auch aus Ankara und Istanbul. Zu den Foltervorwürfen eingeleitete Ermittlungen waren nicht zielführend.

Durch die Ausrufung des Notstands wurden Schutzvorkehrungen für Inhaftierte ausgehebelt und die Wiedereinführung zuvor verbotener Praktiken ermöglicht, die der Anwendung von Folter und anderen Misshandlungen Vorschub leisteten. So wurde die Höchstdauer der Inhaftierung vor Anklageerhebung von vier auf 30 Tage verlängert und die Möglichkeit geschaffen, den Inhaftierten während der ersten fünf Tage die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zu verweigern sowie Gespräche zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Auch der Zugang zu einem Rechtsbeistand und das Recht, einen selbst gewählten Anwalt hinzuzuziehen und nicht einen vom Staat bestellten Pflichtverteidiger, wurden weiter beschnitten. Medizinische Untersuchungen von Inhaftierten wurden in Anwesenheit von Polizisten durchgeführt und den Rechtsbeiständen der Gefangenen wurde die Einsicht in die entsprechenden ärztlichen Gutachten willkürlich verweigert.

Seit der Auflösung der Nationalen Menschenrechtsinstitution im April 2016 und aufgrund der Funktionsuntüchtigkeit der Nachfolgeinstitution gab es im Land keine unabhängige Überwachungsinstanz für die Zustände in den Hafteinrichtungen. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe besuchte Ende August/Anfang September 2016 verschiedene Hafteinrichtungen in der Türkei und übersandte im November einen Bericht an die türkischen Behörden. Bis Ende des Jahres war dieser Bericht von der türkischen Regierung nicht veröffentlicht worden. Der Besuch des UN-Sonderberichterstatters über Folter im Land fand nicht wie geplant im Oktober, sondern erst im November statt, weil die türkische Regierung um eine Verschiebung gebeten hatte.

Die Behörden erklärten, an ihrer "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter festzuhalten. Behördensprecher wiesen Foltervorwürfe jedoch zum Teil pauschal mit der Bemerkung zurück, Putschisten würden Misshandlungen verdienen und es werde keine Ermittlungen zu derartigen Vorwürfen geben. Nachdem Amnesty International und Human Rights Watch einen gemeinsamen Bericht zu Folter und Misshandlungen in der Türkei veröffentlicht hatten, wurden die beiden NGOs von der Regierung bezichtigt, Werkzeuge der als terroristische Organisation eingestuften Gülen-Bewegung zu sein. Im November 2016 wurden per Regierungserlass drei Anwaltsvereinigungen geschlossen, die zu Fällen von Polizeigewalt und Folter tätig waren.

Im Mai 2016 wurden Berichten von Rechtsanwälten zufolge in der südosttürkischen Stadt Nusaybin nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen PKK-Anhängern und türkischen Sicherheitskräften 42 Personen, darunter auch Kinder, festgenommen und anschließend in Polizeigewahrsam geschlagen sowie anderweitig misshandelt. Den Festgenommenen seien Kapuzen über den Kopf gezogen worden, und man habe sie während der polizeilichen Vernehmung geschlagen. Eine angemessene medizinische Versorgung ihrer Verletzungen soll ihnen verweigert worden sein.

Unmittelbar nach dem Putschversuch trafen zahlreiche Berichte über die Folterung und Misshandlung mutmaßlicher Beteiligter ein. Im Zusammenhang mit der offiziellen und inoffiziellen Ingewahrsamnahme Tausender Menschen im Juli durch die Polizei wurden Schläge, sexuelle Übergriffe sowie angedrohte und tatsächliche Vergewaltigungen gemeldet. Militärangehörige wurden offenbar besonders brutal behandelt, darüber hinaus gab es jedoch weitverbreitet Berichte darüber, dass Häftlinge in Stresspositionen verharren mussten, ihnen die Hände hinter dem Rücken gefesselt wurden, sie nicht genügend Nahrung und Wasser bekamen oder man sie nicht zur Toilette gehen ließ. Anwälte und Angehörige von Gefangenen erfuhren oft erst dann von der Inhaftierung, wenn die Betroffenen vor Gericht erschienen.

EXZESSIVE GEWALTANWENDUNG

Bis Juni 2016 führten die Sicherheitskräfte Operationen gegen bewaffnete PKK-Anhänger durch, die sich in verschiedenen Städten im Südosten des Landes in Gräben und hinter Barrikaden verschanzt hatten. Der Einsatz von schweren Waffen einschließlich Panzern und die Verhängung ganztägiger Ausgangssperren war eine unverhältnismäßige und ungerechtfertigte Reaktion der Behörden auf das gravierende Sicherheitsproblem und kam möglicherweise einer Kollektivbestrafung gleich. Es gab Hinweise darauf, dass Sicherheitskräfte die Anordnung hatten, alle bewaffneten Personen zu erschießen, was dazu führte, dass auch unbewaffnete Zivilpersonen getötet oder verletzt wurden und viele Menschen aus der Region fliehen mussten.

Im Januar 2016 wurde Refik Tekin, Kameramann des Senders IMC TV, angeschossen, als er in der Stadt Cizre während der Ausgangssperre eine Gruppe begleitete, die Verletzte zur medizinischen Behandlung bringen wollte. Die Schüsse sollen aus einem gepanzerten Polizeifahrzeug abgefeuert worden sein. Refik Tekin filmte trotz seiner Verletzungen weiter. Später wurde er festgenommen, und die Behörden leiteten Ermittlungen gegen ihn auf Grundlage der Antiterrorgesetze ein.

STRAFLOSIGKEIT

Auch 2016 mussten Angehörige der Sicherheitskräfte, die Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, nicht mit Bestrafung rechnen. Die Behörden leiteten keine Ermittlungen zu Vorwürfen über weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen im Südosten des Landes ein. Nur selten wurden grundlegende Schritte unternommen, um in entsprechenden Fällen – darunter auch Vorkommnisse mit Todesfolge – zu ermitteln. In einigen Fällen wurden Zeugen bedroht. Im Juni 2016 wurden Gesetzesänderungen verabschiedet, denen zufolge zur Einleitung von Ermittlungen gegen Armeeangehörige wegen ihres Verhaltens bei Sicherheitsoperationen eine Genehmigung der Regierung erforderlich ist. Zudem sahen die Änderungen vor, dass auf derartige Ermittlungen folgende Gerichtsverfahren ausschließlich vor Militärgerichten geführt werden. Diese haben sich in der Vergangenheit als wenig wirksam bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen durch Staatsbedienstete erwiesen.

Anlass zur Besorgnis gaben Erklärungen der Regierung unmittelbar nach dem Putschversuch, in denen Vorwürfe über Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam zurückgewiesen wurden.

Obwohl die Türkei das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ratifiziert hat, machten die Behörden kaum Fortschritte hinsichtlich der Verhinderung der weitverbreiteten häuslichen Gewalt gegen Frauen. Auch wurden keine Verfahren zur Untersuchung eines möglichen Hassverbrechens in Fällen eingeleitet, in denen Personen mutmaßlich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität getötet wurden.

Keine Fortschritte gab es bei der Untersuchung zum Tod von ca. 130 Menschen, die im Februar 2016 während der Ausgangssperre in der Stadt Cizre in drei Kellern Schutz vor gewaltsamen Zusammenstößen gesucht hatten und dort ums Leben kamen. Die Behörden gaben an, die PKK habe den Rettungswagen den Weg versperrt. Örtliche Quellen berichteten, die Menschen in den Kellern, die verletzt und auf Notfallversorgung angewiesen waren, seien an ihren Verletzungen gestorben oder von Sicherheitskräften getötet worden, als diese die Gebäude stürmten.

Der Gouverneur der östlichen Provinz Ağrı verweigerte die Genehmigung für Ermittlungen gegen zwei Polizisten im Zusammenhang mit dem Tod zweier Jugendlicher (16 und 19 Jahre) in der Stadt Diyadin. Die Behörden erklärten, die Polizisten hätten die Jugendlichen in Notwehr erschossen. Laut einem ballistischen Untersuchungsbericht wurde jedoch mit einer am Tatort gefundenen Waffe weder geschossen noch fanden sich darauf Fingerabdrücke der Opfer.

Die Ermittlungen zur Tötung des bekannten kurdischen Menschenrechtsverteidigers und Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır, Tahir Elçi, im November 2015 wurden dadurch erschwert, dass der Tatort nicht umfassend untersucht worden war und es keine verwertbaren Videoaufnahmen gab.

Nach mehr als drei Jahren blieben die Ermittlungen zu Verstößen der Polizei bei der Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park erfolglos und führten lediglich zu einer Handvoll nicht zufriedenstellender Verfahren. Ein Gericht verurteilte den Polizisten, der in Ankara den Demonstranten Ethem Sarısülük erschossen hatte, in einem Wiederaufnahmeverfahren zu einer Geldstrafe von 10100 türkischen Lira (ca. 3000 Euro). Der Schadenersatz für Dilan Dursun, die am Tag der Bestattung von Ethem Sarısülük bei Protesten in Ankara von Polizisten mit einer Tränengaskartusche am Kopf getroffen wurde und bleibende Schäden davongetragen hatte, wurde um 75 Prozent vermindert. Das Gericht befand, sie trage eine Teilschuld, weil es sich um eine "illegale Demonstration" gehandelt habe.

MENSCHENRECHTSVERSTÖSSE BEWAFFNETER GRUPPEN

Wahllose Angriffe und gezielte Angriffe auf Zivilpersonen, die eine Missachtung des Rechts auf Leben und des Grundsatzes der Menschlichkeit darstellen, nahmen 2016 sprunghaft zu. Der IS, die PKK und deren Ableger "Freiheitsfalken Kurdistans" sowie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front wurden für die Angriffe verantwortlich gemacht oder bekannten sich zu diesen.

FLÜCHTLINGE UND ASYLSUCHENDE

Im Jahr 2016 war die Türkei das weltweit größte Aufnahmeland für Flüchtlinge und Asylsuchende. Schätzungsweise 3 Mio. Flüchtlinge und Asylsuchende befanden sich im Land, darunter ein erheblicher Anteil an irakischen und afghanischen Staatsangehörigen sowie 2,75 Mio. registrierte Syrer, denen vorübergehender Schutzstatus gewährt wurde. Im März 2016 schloss die EU ein Migrationsabkommen mit der Türkei, um die Einreise von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus in die EU zu verhindern. Ungeachtet zahlreicher Mängel beim Schutz von Flüchtlingen und Asylsuchenden in der Türkei ermöglichte der Pakt auch die Rückführung in das Land.

Die Grenze zu Syrien blieb geschlossen. Trotz einiger Verbesserungen konnten die meisten syrischen Flüchtlingskinder nach wie vor keine Schule besuchen, und die meisten erwachsenen Syrer erhielten weiterhin keinen Zugang zu legaler Arbeit. Viele Flüchtlingsfamilien hatten kein angemessenes Auskommen und lebten in Armut.

In den ersten Monaten des Jahres 2016 führten die türkischen Sicherheitskräfte Massenabschiebungen nach Syrien durch. Darüber hinaus kam es immer wieder zur rechtswidrigen Zurückweisung syrischer Flüchtlinge und zu zum Teil tödlichen Schüssen auf schutzbedürftige Personen durch türkische Grenzwachen.

BINNENVERTRIEBENE

Hunderttausende Menschen aus den Gebieten im Südosten des Landes, die von den Ausgangssperren betroffen waren, mussten fliehen. Da die Ausgangssperren häufig nur wenige Stunden vor Verhängung angekündigt wurden, konnten die meisten kaum etwas von ihrer Habe mitnehmen. In vielen Fällen konnten Binnenvertriebene ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte einschließlich des Rechts auf angemessenen Wohnraum und Zugang zu Bildung nicht wahrnehmen. Für den Verlust ihres Besitzes und ihrer Lebensgrundlage wurden sie nur unangemessen entschädigt. Ihr Recht auf eine Rückkehr in ihre Häuser war angesichts des hohen Ausmaßes der Zerstörung und der Ankündigung von Wiederaufbauprojekten, bei denen die ehemaligen Bewohner vermutlich ausgeschlossen werden, stark beeinträchtigt.

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