Amnesty Report Kolumbien 17. Mai 2017

Kolumbien 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Das zwischen der Regierung und der Guerillagruppe Revolutionäre Streitkräfte von Kolumbien (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – FARC) ausgehandelte Friedensabkommen wurde im November 2016 durch den Kongress ratifiziert. Damit wurde der seit 50 Jahren andauernde interne bewaffnete Konflikt nach vierjährigen Verhandlungen offiziell für beendet erklärt. Allerdings kam es wieder vermehrt zur Tötung von Menschenrechtsverteidigern, darunter Sprecher von indigenen, afro-kolumbianischen und kleinbäuerlichen Gemeinschaften. Der Friedensprozess mit der zweitgrößten Guerillagruppe Ejército de Liberación Nacional (ELN) war Ende 2016 noch nicht aufgenommen worden. Es bestanden Bedenken, ob das mit der FARC ausgehandelte Friedensabkommen auch gewährleisten würde, dass Personen, denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, gemäß völkerrechtlichen Standards zur Verantwortung gezogen werden könnten.

FRIEDENSPROZESS

Im Juni 2016 unterzeichneten die kolumbianische Regierung und die FARC eine Übereinkunft über einen endgültigen bilateralen Waffenstillstand und das Ende aller Feindseligkeiten. Die Übereinkunft trat am 29. August in Kraft, nachdem es bereits 2015 Feuerpausen gegeben hatte. Am 24. August 2016 einigten sich beide Seiten auf ein Friedensabkommen, das am 26. September in Cartagena unterzeichnet wurde. Am 2. Oktober 2016 wurde das Abkommen jedoch in einem Referendum abgelehnt. Dies war zum Teil auf Bedenken bezüglich der darin enthaltenen Bestimmungen zurückzuführen, die in vielen Fällen Straffreiheit für die Verantwortlichen von Menschenrechtsverstößen befürchten ließen.

Am 12. November 2016 kündigten die Verhandlungsparteien ein überarbeitetes Friedensabkommen an. Dieses wurde am 24. November unterzeichnet und am 30. November vom Kongress ratifiziert. Daraufhin sollte die FARC in einem sechsmonatigen Prozess der Demobilisierung ihre Waffen abgeben. Dieser Prozess sollte teils von unbewaffneten UN-Beobachtern begleitet und geprüft werden. Ende 2016 gab es jedoch Probleme mit den Lebensbedingungen in den sogenannten Übergangszonen, in denen sich die FARC-Kämpfer sammeln sollten, um mit der Demobilisierung zu beginnen.

Am 28. Dezember 2016 wurde im Kongress ein Gesetz angenommen, unter dem FARC-Kämpfern Amnestien bzw. Begnadigungen gewährt werden sollen. Außerdem sieht es vor, dass Angehörige der Sicherheitskräfte, denen keine völkerrechtlichen Verbrechen vorgeworfen werden, nicht strafrechtlich verfolgt werden. Personen, die wegen völkerrechtlicher Verbrechen verurteilt wurden und mindestens fünf Jahre in Haft verbracht haben, sollen in bestimmten Fällen unter Auflagen freigelassen werden. Das Gesetz enthält einige Unklarheiten, was befürchten lässt, dass viele für Menschenrechtsverstöße Verantwortliche nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Die durch die Neuverhandlungen zustande gekommenen Änderungen des Friedensabkommens trugen nicht maßgeblich zur Stärkung der Rechte der Opfer bei. Doch enthält das Abkommen eine Bestimmung, die als positive Entwicklung zu werten ist, sofern sie wirksam umgesetzt wird: Demnach muss die FARC eine Bestandsaufnahme aller Besitztümer vorlegen, die sie sich im Verlauf des Konflikts angeeignet hat, und davon ausgehend würden die Betroffenen entschädigt.

Das Friedensabkommen sieht die Einrichtung einer "Sondergerichtsbarkeit für den Frieden" (Jurisdicción Especial para la Paz) vor, die zunächst noch vom Kongress bewilligt werden muss. Ziel ist die Untersuchung und Bestrafung von Personen, die Verbrechen gemäß dem Völkerrecht begangen haben. Des Weiteren soll eine Wahrheitskommission sowie ein Mechanismus zur Lokalisierung und Identifizierung von Personen, die im Zuge des Konflikts vermisst wurden, gebildet werden.

Doch trotz einiger positiver Merkmale entsprachen viele Bestimmungen dieses Abkommens nicht dem Völkerrecht und internationalen Standards für die Rechte von Opfern. So trugen die im Abkommen vorgesehenen Strafen in einigen Fällen augenscheinlich nicht der Schwere der jeweiligen Verbrechen Rechnung. Zudem gab es darin eine Definition der Vorgesetztenverantwortung, die es schwierig machen könnte, Befehlshaber der FARC wie auch Kommandanten der Streitkräfte für Straftaten ihrer Untergebenen zur Verantwortung zu ziehen.

Am 30. März 2016 kündigten Regierung und ELN an, dass sie Friedensgespräche aufnehmen würden. Diese hatten Ende 2016 jedoch noch nicht begonnen, da die ELN die Freilassung einer ihrer strategisch wichtigen Geiseln verweigerte.

Am 7. Oktober 2016 wurde bekannt gegeben, dass Präsident Juan Manuel Santos Calderón den Friedensnobelpreis für seine Rolle bei der Erarbeitung des Friedensabkommens erhalten würde.

INTERNER BEWAFFNETER KONFLIKT

Bis zum 1. Dezember 2016 hatte die staatliche Institution Unidad Nacional para la Atención y Reparación Integral a las Víctimas del Conflicto fast 8 Mio. Konfliktopfer seit 1985 registriert. Hierzu zählten ungefähr 268000 Todesopfer, zumeist Zivilpersonen, sowie fast 7 Mio. Vertriebene, etwa 46000 Opfer des Verschwindenlassens, mindestens 30000 Geiseln, mehr als 10000 Folteropfer und etwa 10800 Opfer von Antipersonenminen und nichtexplodierten Kampfmitteln. Für diese Verbrechen waren sowohl die Sicherheitskräfte als auch Paramilitärs und Guerillagruppen verantwortlich.

Die abnehmende Intensität der Feindseligkeiten zwischen den Sicherheitskräften und der Guerillagruppe FARC hatte 2016 einen spürbaren Rückgang der mit dem Konflikt zusammenhängenden Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung zur Folge. Trotzdem litten indigene, afro-kolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinschaften weiterhin unter Menschenrechtsverletzungen und -verstößen. Besonders betroffen waren diejenigen, die in Gebieten lebten, die für agro-industrielle wie auch Bergbau- und Infrastrukturvorhaben von Interesse waren.

Im August 2016 wurden vier Angehörige der indigenen Bevölkerungsgruppe der Awá bei drei separaten Angriffen von Unbekannten im Departamento Nariño erschossen. Unter den Opfern war Camilo Roberto Taicús Bisbicús, Sprecher des Reservats (resguardo) der indigenen Gruppe der Awá in Hojal La Turbia im Verwaltungsbezirk Tumaco.

Im März 2016 wurden aufgrund von Kampfhandlungen, die zwischen bewaffneten Gruppen ausgebrochen waren, mehr als 6000 Personen vertrieben. Es handelte sich bei den Vertriebenen hauptsächlich um Angehörige indigener und afro-kolumbianischer Gemeinschaften, die in drei an Flüssen gelegenen Gebieten im Departamento Chocó lebten.

SICHERHEITSKRÄFTE

Im Verlauf des Jahres gingen immer wieder Berichte über rechtswidrige Tötungen durch Sicherheitskräfte sowie Meldungen über exzessive Gewalt bei Protesten ein, für die in vielen Fällen die Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (Escuadrón Móvil Antidisturbios) verantwortlich war.

Am 29. Februar 2016 töteten Soldaten den Kleinbauern Gilberto de Jesús Quintero in der Ortschaft Tesorito im Verwaltungsbezirk Tarazá (Departamento Antioquia). Die Armee hatte ursprünglich behauptet, dass er ein der ELN angehörender Guerillakämpfer gewesen und im Kampf getötet worden sei. Zeugen gaben jedoch an, gesehen zu haben, wie Soldaten versuchten, dem Leichnam einen Kampfanzug des Militärs anzuziehen. Die Armee erklärte später, dass es sich bei der Tötung um einen militärischen Irrtum gehandelt habe.

Strafrechtliche Ermittlungen über mutmaßlich von den Sicherheitskräften verübte außergerichtliche Hinrichtungen machten kaum Fortschritte. Nach einem im November 2016 von der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs veröffentlichten Bericht ermittelte die Generalstaatsanwaltschaft im Juli 2016 wegen 4190 mutmaßlicher außergerichtlicher Hinrichtungen. Bis Februar 2016 waren Schuldsprüche gegen insgesamt 961 Personen erfolgt, allerdings betrafen diese nur in sehr wenigen Fällen hochrangige Angehörige der Sicherheitskräfte. Gemäß einem im März 2016 vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte veröffentlichten Bericht wurde zum Jahresende 2015 gegen 7773 Angehörige der Sicherheitskräfte wegen des Verdachts auf außergerichtliche Hinrichtungen ermittelt. Im November 2016 wurden mehr als ein Dutzend Armeeangehörige der 2008 begangenen rechtswidrigen Tötung von fünf jungen Männern aus Soacha im Departamento Cundinamarca für schuldig befunden.

VERSTÖßE BEWAFFNETER GRUPPEN

Guerillagruppen

Sowohl ELN als auch FARC begingen nach wie vor Menschenrechtsverstöße, doch nahmen die der FARC zugeschriebenen Fälle mit dem Fortschreiten des Friedensprozesses ab.

Sprecher indigener Gemeinschaften und Journalisten erhielten Morddrohungen. So rief im Juni 2016 ein Mann, der sich als Mitglied der ELN ausgab, María Beatriz Vivas Yacuechime, Sprecherin des Indigenen Regionalrats des Departamento Huila (Consejo Regional Indígena del Huila), an und drohte damit, sie und ihre Familie zu töten. Im Juli erhielten der Journalist Diego D’Pablos und der Kameramann Carlos Melo per SMS Morddrohungen von einer Person, die angab, der ELN anzugehören. Beide Männer waren bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Jahr zusammen mit der Journalistin Salud Hernández-Mora in der nördlichen Region Catatumbo von der ELN als Geiseln genommen worden.

Am 24. März 2016 riefen zwei Männer im Haus des Indigenensprechers Andrés Almendras in der Ortschaft Laguna Siberia im Verwaltungsbezirk Caldono (Departamento Cauca) an. Sie gaben an, den FARC anzugehören. Da Andrés Almendras nicht zu Hause war, fragte der Mann dessen Tochter, wo sich der "Verräter" (sapo) aufhalte, denn er solle aus der Region verschwinden.

Paramilitärs

Paramilitärische Gruppen waren weiterhin aktiv, obwohl sie vorgeblich bereits vor einem Jahrzehnt demobilisiert worden waren. Sie operierten allein oder mit stillschweigender Duldung durch staatliche Akteure und waren für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen – auch Morde und Morddrohungen – verantwortlich.

Im April 2016 berichteten lokale NGOs, dass ungefähr 150 Bewaffnete, die der paramilitärischen Gruppe Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) angehörten, in die afro-kolumbianische Ortschaft Teguerré eingedrungen waren. Die Ortschaft gehört zum kollektiven Territorium Cacarica im Departamento Chocó. Während des gesamten Jahres trafen Berichte über erneutes Eindringen der AGC in das Territorium Cacarica ein. Einige Sprecher der afro-kolumbianische Gemeinschaft wurden von der Gruppe AGC zu "militärischen Zielen" erklärt und bedroht.

Es gab auch zunehmend Meldungen über das Eindringen von Paramilitärs in die Friedensgemeinde San José de Apartadó im Departamento Antioquia. Einige ihrer Mitglieder wurden bedroht.

Bis zum 30. September 2016 waren lediglich 180 der mehr als 30000 Paramilitärs, die vorgeblich im Rahmen des von der Regierung geförderten Demobilisierungsprozesses ihre Waffen niedergelegt hatten, wegen Menschenrechtsverbrechen auf der Grundlage des im Jahr 2005 in Kraft getretenen Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden schuldig gesprochen worden. Der überwiegende Teil von ihnen legte Rechtsmittel gegen die Urteile ein. Die meisten Paramilitärs unterwarfen sich jedoch nicht dem Prozess für Gerechtigkeit und Frieden und wurden de facto amnestiert.

STRAFLOSIGKEIT

Nur ein verschwindend geringer Teil der Personen, die mutmaßlich für konfliktbezogene Verbrechen nach internationalem Recht verantwortlich waren, wurden vor Gericht gestellt. In Erfüllung ihrer im Rahmen des Friedensprozesses übernommenen Verpflichtungen entschuldigten sich jedoch Regierung und FARC offiziell für ihre Rolle in mehreren besonders symbolträchtigen Fällen von Menschenrechtsverletzungen und -verstößen.

Am 30. September 2016 entschuldigten sich die FARC in La Chinita im Verwaltungsbezirk Apartadó (Departamento Antioquia) für die am 23. Januar 1994 begangene Tötung von 35 Einwohnern des Dorfes.

Am 15. September 2016 bat Präsident Santos offiziell um Entschuldigung für die Rolle des Staates bei den in den 1980er und 1990er Jahren verübten Tötungen von etwa 3000 Mitgliedern der Partei Patriotische Union (Unión Patriótica – UP). Die Gründung der UP durch die Kommunistische Partei Kolumbiens und die FARC erfolgte im Zusammenhang mit dem gescheiterten Friedensprozess unter der Regierung von Belisario Betancour Cuartas.

Im Februar 2016 entschied das Verfassungsgericht, dass eine 2015 durchgeführte Reform, die den Militärgerichten die Zuständigkeit für mit dem Militärdienst zusammenhängende Fälle sowie im aktiven Dienst verübte Straftaten zugesprochen hatte, verfassungsgemäß war. Die Reform hatte gleichfalls festgelegt, dass die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und nicht die internationalen Menschenrechtsnormen bei Ermittlungen gegen Militärangehörige wegen konfliktbezogener Verbrechen Anwendung finden sollen, auch wenn viele dieser Straftaten nicht während der Kampfhandlungen begangen wurden und die Opfer zumeist Zivilpersonen gewesen waren. Das Verfassungsgericht entschied jedoch, dass bei diesen Ermittlungen auch die internationalen Menschenrechtsnormen gelten sollten.

Angesichts der mageren Bilanz der Militärgerichtsbarkeit bei der Strafverfolgung gegen Militärangehörige, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, wurde befürchtet, dass das Urteil des Verfassungsgerichts kaum zu einer Überwindung der Straflosigkeit beitragen würde.

MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER

Es gab weiterhin zahlreiche Berichte über Bedrohungen und Tötungen von Menschenrechtsverteidigern, insbesondere Gemeindesprechern, Landrechts- und Umweltaktivisten und Unterstützern von Kampagnen für Gerechtigkeit und Frieden. Die überwiegende Zahl der Drohungen wurde Paramilitärs zugeschrieben. Es war in den meisten Fällen jedoch schwierig festzustellen, welche Gruppe für die Tötungen verantwortlich war. Laut Angaben der NGO Somos Defensores waren bis zum 8. Dezember 2016 mindestens 75 Menschenrechtsverteidiger getötet worden, verglichen mit 63 im gesamten Jahr 2015. Im Allgemeinen handelte es sich um gezielte Tötungen und nicht um Angriffe im Kontext von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien. Mehreren Menschenrechtsorganisationen wurden zudem vertrauliche Unterlagen aus ihren Büros entwendet. Nach Informationen der NGO Escuela Nacional Sindical waren bis zum 20. Dezember 2016 insgesamt 17 Gewerkschaftsmitglieder getötet worden.

Am 29. August 2016 erschoss eine Gruppe Unbekannter im Verwaltungsbezirk Almaguer im Departamento Cauca Joel Meneses, Nereo Meneses Guzmán und Ariel Sotelo. Die drei Männer waren Sprecher der NGO Comité de Integración de Macizo Colombiano (CIMA).

Gleichfalls im August erhielt Ingrid Vergara, eine Sprecherin des Movimiento Nacional de Víctimas de Crímenes de Estado (MOVICE), einen Drohanruf, nachdem sie an einer öffentlichen Anhörung über Menschenrechte vor dem Kongress in der Hauptstadt Bogotá teilgenommen hatte. Ingrid Vergara und andere Mitglieder von MOVICE werden seit Jahren wegen ihrer Menschenrechtsarbeit bedroht und schikaniert.

LANDRECHTE

Der seit 2012 laufende Prozess der Landrückgabe, mit dem während des internen Konflikts rechtswidrig in Besitz genommenes Land an seine rechtmäßigen Eigentümer rückübertragen werden soll, kam auch weiterhin nur schleppend voran. Laut Angaben der staatlichen Behörde für Landrückgabe (Unidad de Restitución de Tierras) hatten Grundbuchrichter bis zum 5. Dezember 2016 lediglich über die Rückgabe von 62093 Hektar Land entschieden, das von Kleinbauern beansprucht wurde, sowie Urteile über 131657 Hektar Land gefällt, auf das eine afro-kolumbianische Gemeinschaft und vier indigene Gemeinschaften Anspruch erhoben.

Landrechtsaktivisten wurden weiterhin bedroht und ermordet. Am 11. September 2016 erschossen unbekannte Angreifer den afro-kolumbianischen Sprecher Néstor Iván Martínez im Verwaltungsbezirk Chiriguaná (Departamento del Cesar). Iván Martínez hatte sich aktiv an Umwelt- und Landrechtskampagnen beteiligt und gegen Bergbauaktivitäten protestiert.

Am 29. Januar 2016 verabschiedete der Kongress Gesetz 1776, das als legale Grundlage für die Entstehung großer agro-industrieller Projekte (Zonas de Interés de Desarrollo Rural, Económico y Social) dienen soll. Kritiker wiesen darauf hin, dass diese Projekte die Landrechte ländlicher Gemeinschaften untergraben könnten. Im Februar 2016 entschied das Verfassungsgericht, dass die gesetzlichen Bestimmungen, wonach Ansprüche auf Landrückgabe nicht in Gebieten gelten sollen, die von der Regierung zu Projekten von nationalem und strategischem Interesse (Proyectos de Interés Nacional y Estratégicos) erklärt wurden, verfassungswidrig seien. Nach Ansicht des Gerichts kann der Staat zwar Land in diesen Gebieten enteignen, doch hätten Personen, die Ansprüche auf das Land haben, das Recht auf eine formale Anhörung über die beabsichtigte Enteignung sowie auf gerichtlich festzulegende Entschädigungen.

Am 9. Juni 2016 veröffentlichte das Verfassungsgericht sein im Dezember 2015 gefälltes Urteil, mit dem drei von der Nationalen Bergbauagentur (Agencia Nacional de Minería) und dem Ministerium für Bergbau und Energie gefasste Beschlüsse aufgehoben wurden. Durch diese Beschlüsse waren 20 Mio. Hektar Land, das zum Teil zu indigenen und afro-kolumbianischen Territorien gehört, zu strategischen Bergbauzonen (Áreas Estratégicas Mineras – AMS) deklariert worden. Das Gericht befand, dass die in diesen Gebieten lebenden indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften konsultiert werden müssen, bevor deren Territorien als AMS ausgewiesen werden.

GEWALT GEGEN FRAUEN UND MÄDCHEN

Alle Konfliktparteien wurden weiterhin beschuldigt, für Verbrechen sexualisierter Gewalt verantwortlich zu sein. Bis zum 1. Dezember 2016 hatte die staatliche Institution Unidad para la Atención y Reparación Integral a las Víctimas mehr als 17500 Personen registriert, die seit 1985 Opfer konfliktbezogener strafbarer Handlungen gegen ihre sexuelle Integrität geworden waren.

Im März 2016 veröffentlichte die NGO Mesa de Seguimiento a los Autos 092 de 2008 y 009 de 2015 de la Corte Constitucional einen Bericht über die Umsetzung der vom Verfassungsgericht erlassenen Anordnungen 092 aus dem Jahr 2008 und 009 aus dem Jahr 2015. Die beiden richterlichen Anordnungen hoben die weite Verbreitung von im Rahmen des Konflikts verübter sexualisierter Gewalt gegen Frauen hervor und wiesen den Staat an, diese Verbrechen zu bekämpfen und die mutmaßlich für diese Straftaten Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Die Verfasser des Berichts zogen die Schlussfolgerung, dass der Staat zwar einige Fortschritte bei der Untersuchung dieser Verbrechen gemacht, aber keine wirksamen Maßnahmen ergriffen habe, um die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sicherzustellen. Die große Mehrheit der mutmaßlich für diese Verbrechen Verantwortlichen war bis zum Jahresende noch nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Im August 2016 erließ die Regierung die Anordnung 1314, mit der eine Kommission zur Entwicklung eines umfassenden Programms zum Schutz von weiblichen Führungskräften und Menschenrechtsverteidigerinnen (Programa Integral de Garantías para las Mujeres Lideresas y Defensoras de Derechos Humanos) ins Leben gerufen wurde. Im Rahmen dieses Programms sollen u. a. Präventions- und Schutzmechanismen eingerichtet werden.

Im Juni 2016 verabschiedete die Generalstaatsanwaltschaft ein Verfahren zur Untersuchung und Verfolgung von Verbrechen sexualisierter Gewalt (Protocolo para investigar y judicializar la violencia sexual).

INTERNATIONALE KONTROLLE

Im März 2016 veröffentlichte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte einen Bericht, in dem er der Regierung und der FARC zu den erreichten Fortschritten bei den Verhandlungen zum Abschluss eines Friedensabkommens gratulierte. Er wies jedoch warnend darauf hin, dass paramilitärische Gruppen (im Bericht als "nach der Demobilisierung entstandene Gruppen" bezeichnet) "ständig die Menschenrechte und die Sicherheit der Bürger sowie die Rechtsprechung und die Friedensförderung, einschließlich der Landrückgabe untergraben". Deshalb stelle "die Auflösung der Gruppen, die die Kontrolle über gestohlenes Land mithilfe von Drohungen und Gewalt ausüben, eine fortdauernde Aufgabe auf dem Weg zum Frieden dar".

In seinen im Oktober 2016 veröffentlichten Abschließenden Bemerkungen zu Kolumbien würdigte der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen die Bemühungen der kolumbianischen Behörden und stellte fest, dass die Anzahl der Fälle von Verschwindenlassen in den vergangenen Jahren abgenommen habe. Der Ausschuss zeigte sich aber gleichzeitig besorgt darüber, dass Kolumbien bisher die Zuständigkeit des Ausschusses gegen das Verschwindenlassen, Mitteilungen von oder im Namen von Opfern entgegenzunehmen und zu prüfen, bisher nicht anerkannt habe. Auch habe Kolumbien bisher keine nennenswerten Fortschritte bei der Untersuchung dieser Verbrechen gemacht.

Im November 2016 stellte der UN-Menschenrechtsrat fest, dass die Folgen des Konflikts für die kolumbianische Zivilbevölkerung stark abgenommen hatten. Dennoch äußerte der Menschenrechtsrat Sorge über anhaltende Menschenrechtsverstöße wie willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen und Folter, sowie auch angesichts der fortbestehenden Straflosigkeit für diese Verstöße. Das Gremium zeigte sich zudem besorgt über Menschenrechtsverstöße seitens "illegaler bewaffneter Gruppen, die infolge der Demobilisierung paramilitärischer Organisationen auf den Plan traten", und wies auf Vorwürfe hin, nach denen staatliche Akteure mit diesen Gruppierungen zusammengearbeitet haben sollen.

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