Amnesty Report 16. Februar 2017

Äthiopien 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Die Polizei reagierte auf die anhaltenden Proteste gegen politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Missstände mit exzessiver und tödlicher Gewalt. Das harte Vorgehen gegen die politische Opposition war von massenhaften willkürlichen Festnahmen, Folter und anderen Misshandlungen, unfairen Gerichtsverfahren sowie Verletzungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit geprägt. Der von der Regierung am 9. Oktober 2016 ausgerufene Notstand hatte weitere Menschenrechtsverletzungen zur Folge.

HINTERGRUND

Als Reaktion auf die nicht abreißenden Protestaktionen in den Regionen Oromia und Amhara führten die Behörden Reformen durch. Mit diesen wurden jedoch die von den Protestierenden angeprangerten Missstände nicht behoben. Bei den Protesten wurden u. a. Verbesserungen im Hinblick auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Freilassung von gewaltlosen politischen Gefangenen gefordert.

In der Region Oromia wurden die Proteste gegen den Masterplan zur Entwicklung von Addis Abeba, die im November 2015 begonnen hatten, fortgesetzt, obwohl die Regierung den Plan im Januar 2016 zurückgezogen hatte. Der Masterplan hatte die Ausdehnung der Hauptstadt auf Ländereien vorgesehen, die Bauern in der Region Oromia gehörten.

Ende Juli 2016 protestierten in der Region Amhara Menschen gegen die willkürliche Festnahme von Mitgliedern des Komitees zur Identität und Selbstbestimmung der Amharen in Wolkait und forderten in Übereinstimmung mit der Verfassung mehr Autonomie für die Region. Auch die Gemeinschaft der Konso in der Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker forderte mit einer Reihe von Protestaktionen mehr Verwaltungsautonomie ein.

Bei einer Massenpanik während der Feierlichkeiten anlässlich des religiösen Irreechaa-Festes der Oromo wurden am 2. Oktober 2016 mindestens 55 Menschen getötet. Die Panik soll durch das unverhältnismäßig harte Vorgehen der Polizei ausgelöst worden sein. Aktivisten riefen nach dem Vorfall zu einer "Woche der Wut" auf. Bei einigen Demonstrationen, die in Gewalt umschlugen, wurden Geschäfts- und Regierungsgebäude angezündet und zerstört.

Nachdem im Oktober 2016 der Notstand ausgerufen worden war, gingen die Proteste zurück, die Menschenrechtsverletzungen nahmen jedoch zu.

EXZESSIVE GEWALTANWENDUNG

Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessiver und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vor. Seit dem Ausbruch der Proteste im November 2015 bis Ende 2016 töteten sie mindestens 800 Menschen.

Nachdem es am 6. und am 7. August 2016 in Addis Abeba offene Aufrufe zu Demonstrationen gegeben hatte, töteten Regierungskräfte mindestens 100 Menschen. Mehr als 1000 Demonstrierende wurden festgenommen und auf den Militärstützpunkt Awash Arba gebracht. Dort schlug man sie und zwang sie, bei hohen Temperaturen anstrengende Tätigkeiten zu verrichten.

RECHTE AUF MEINUNGS- UND VERSAMMLUNGSFREIHEIT

Das harte Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Medien, Journalisten, Blogger, friedliche Demonstrierende sowie gegen Mitglieder und Sprecher der politischen Opposition nahm im Jahresverlauf zu. Dabei wurde häufig auf Bestimmungen des Antiterrorgesetzes von 2009 zurückgegriffen. Durch das Ausrufen des Notstandes traten weitere Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Kraft, darunter die zeitweise Sperrung des Internets.

Während des Notstands wurden mehr als 11000 Menschen festgenommen und inhaftiert, ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand oder ihren Familien zu erhalten oder einem Richter vorgeführt zu werden. Unter den willkürlich festgenommen Personen waren auch Befeqadu Hailu, Mitglied des Blogger-Kollektivs Zone 9; Merera Gudina, Vorsitzender der Oppositionspartei Oromo Federalist Congress (OFC); Anania Sorri und Daniel Shibeshi, Mitglieder der ehemaligen Partei Unity for Democracy and Justice Party (Andinet), und der Journalist Elias Gebru. Addisu Teferi, Feqadu Negeri, Roman Waqweya und Bulti Tessema, vier Mitglieder der NGO Äthiopischer Menschenrechtsrat (Ethiopian Human Rights Council), wurden in Nekemte in der Region Oromia festgenommen.

UNFAIRE GERICHTSVERFAHREN

Politisch engagierten Personen drohten unfaire Gerichtsverfahren aufgrund von Anklagen unter dem Antiterrorgesetz. Das Gesetz enthält sehr weit gefasste und allgemein gehaltene Definitionen terroristischer Handlungen, die mit Freiheitsstrafen von bis zu 20 Jahren geahndet werden können.

Wegen ihrer Rolle bei der Organisation der Proteste in der Region Oromia im November 2015 wurden der Oppositionsführer Gurmesa Ayano, der stellvertretende Vorsitzende der OFC, Beqele Gerba, sowie 20 weitere Angeklagte in einem unfairen Verfahren vor Gericht gestellt. Gegen sie wurde Anklage auf der Grundlage des Antiterrorgesetz erhoben. Als die Angeklagten am 11. Mai 2016 vor Gericht erscheinen sollten, weigerten sich die Behörden sie dorthin zu bringen, weil sie zum Zeichen der Trauer um die Menschen, die während der Proteste zu Tode gekommen waren, schwarze Anzüge trugen. Beim darauffolgenden Gerichtstermin am 3. Juni führten Gefängnisbedienstete sie in Unterhosen vor. Die Angeklagten beschwerten sich in der Verhandlung darüber, dass sie in der Haft geschlagen wurden und die Gefängnisbediensteten ihnen ihre Kleidung weggenommen hatten. Das Gericht ordnete jedoch keine Untersuchung der Vorwürfe über Folter und anderweitige Misshandlung an.

Desta Dinka, Jugendkoordinator der OFC, der sich seit dem 23. Dezember 2015 in Untersuchungshaft befand, wurde erst im Mai 2016 unter dem Antiterrorgesetz angeklagt. Das Gericht ordnete an, dass er für die Dauer seines Verfahrens in Untersuchungshaft bleiben müsse. Laut äthiopischem Recht darf eine Person nicht länger als vier Monate in Untersuchungshaft festgehalten werden.

Berhanu Tekleyared, Eyerusalem Tesfaw und Fikremariam Asmamaw, die sich wegen terrorismusbezogener Straftaten vor Gericht verantworten mussten, wurde das Recht auf Vorbringen einer Verteidigung verwehrt. Dessen ungeachtet wurden sie am 20. Juli 2016 schuldig gesprochen.

STRAFLOSIGKEIT

Die Regierung wies Forderungen des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge und der Afrikanischen Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker nach unabhängigen und unparteiischen Untersuchungen der Menschenrechtsverletzungen, die in mehreren Regionen im Zusammenhang mit Protesten begangen worden waren, zurück.

AUSSERGERICHTLICHE HINRICHTUNGEN

Die Liyu-Polizei, eine Sondereinheit in der Region Somali im Osten Äthiopiens, richtete am 5. Juni 2016 in der Ortschaft Jamaa Dhuubed 21 Menschen außergerichtlich hin. 14 wurden in der Moschee des Dorfes, sieben an anderen Stellen in Jamaa Dhuubed erschossen. Als Angehörige die Toten betrauern und bestatten wollten, drohte die Liyu-Polizei damit, sie zu töten.

RECHT AUF WOHNEN – RECHTSWIDRIGE ZWANGSRÄUMUNGEN

Ende Juni 2016 ließ die Regierung in Lafto, einem Stadtteil von Addis Abeba, mindestens 3000 Menschen, bei denen es sich um "Hausbesetzer" gehandelt haben soll, mit Gewalt aus ihren Wohnungen vertreiben. Offenbar wurden die Bewohner vor der Räumung weder konsultiert noch wurden Ersatzunterkünfte für sie bereitgestellt. Sie hatten erst drei Tage vorher von der bevorstehenden Räumung erfahren. Noch während eines Treffens mit der Kommunalverwaltung, bei der sich die Bewohner beschweren wollten, begann die Einsatzgruppe der Regierung mit dem Abriss der Häuser. Daraufhin kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen der Leiter der Bezirksverwaltung und zwei Polizisten getötet wurden. Die Polizei nahm alle männlichen Bewohner fest und riss in den darauffolgenden Tagen alle betroffenen Häuser ab.

ENTFÜHRUNGEN VON KINDERN

Die Behörden trafen keine Maßnahmen, um Menschen in der Region Gambella wirksam vor wiederholten Überfällen durch bewaffnete Angehörige der Murle aus dem angrenzenden Südsudan zu schützen. Bei diesen Überfällen wurden Hunderte Kinder verschleppt. Im Februar und im März 2016 verschleppten Kämpfer der Murle insgesamt 26 Kinder der Gemeinschaft der Anywaa. Bei einem Überfall in der Nacht vom 15. April auf 13 Dörfer der Gemeinschaft der Nuer in den Bezirken Jikaw und Lare töteten Angehörige der Murle 208 Personen und entführten 159 Kinder. Bis Ende Juni gelang es äthiopischen Streitkräften, 91 entführte Kinder zu befreien.

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