Amnesty Report El Salvador 01. Juni 2016

El Salvador 2016

 

Nach wie vor galt ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Personen, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen (LGBTI) und für die Verteidigung und Förderung sexueller und reproduktiver Rechte einsetzten, waren zunehmend Risiken ausgesetzt. Sie sahen sich insbesondere mit Gewalt und Einschüchterungen konfrontiert, die von staatlichen Akteuren, Einzelpersonen und privaten Gruppen ausgingen. Das noch immer geltende Amnestiegesetz aus dem Jahr 1993 verstellte den Opfern von Menschenrechtsverletzungen, die während des bewaffneten Konflikts zwischen 1980 und 1992 verübt worden waren, den Zugang zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Hintergrund

Im März 2015 fanden Parlaments- und Kommunalwahlen statt. Zum ersten Mal war dabei eine Frauenquote von 30% in den Wahllisten vorgeschrieben. Keine Partei erreichte die für eine Mehrheit in der Gesetzgebenden Versammlung notwendige Anzahl von Sitzen. Sowohl von Banden ausgehende Gewalttaten als auch die organisierte Kriminalität nahmen stark zu, und die Anzahl der Tötungsdelikte war deutlich höher als im Vorjahr. Offiziellen Angaben zufolge wurden während der ersten acht Monate des Jahres 4253 Tötungsdelikte registriert, während es im gesamten Vorjahr 3912 waren. Die Gewaltkriminalität veranlasste viele Salvadorianer, das Land zu verlassen, und führte nach Ansicht des Runden Tischs der Zivilgesellschaft gegen Vertreibung durch Gewalt und organisiertes Verbrechen (Mesa de Sociedad Civil contra Desplazamiento Forzado por Violencia y Crimen Organizado) auch dazu, dass Tausende Familien innerhalb des Landes vertrie-ben wurden.

Im September 2015 forderte die Interamerikanische Menschenrechtskommission El Salvador auf, Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit von drei Männern zu ergreifen, die mutmaßlich Opfer des Verschwindenlassens geworden waren. Auch für die Familienangehörigen der drei Männer forderte die Interamerikani-sche Menschenrechtsorganisation Schutzmaßnahmen, da diese angegriffen und bedroht worden waren, nachdem sie sich bei den Behörden nach dem Verbleib ihrer Verwandten erkundigt hatten.

Angesichts von Berichten und Beschwerden über zunehmende Gewaltakte gegen LGBTI-Gemeinschaften beschloss die Gesetzgebende Versammlung im September 2015 Reformen des Strafgesetzbuchs, mit denen die Strafen für Verbrechen verschärft wurden, denen politische oder rassistische Motive zugrunde liegen oder die aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität der Opfer begangen werden.

Frauenrechte

Nach den von der Organisation Salvadorianischer Frauen für den Frieden (Organización de Mujeres Salvadoreñas por la Paz – ORMUSA) gesammelten Informationen lag die Zahl der Morde an Frauen zwischen Januar und Oktober 2015 bei 475, während sie sich im Vorjahr auf 294 belief. Trotz des Umfassenden Sondergesetzes für ein gewaltfreies Leben für Frauen (Ley Especial Integral para una Vida Libre de Violencia para las Mujeres) werteten einige Richter ORMUSA zufolge die geschlechtsspezifische Tötung von Frauen und Mädchen weiterhin als Tötung (homicidio) und nicht entsprechend den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs als Femizid (femicidio).

Im Januar 2015 stimmte die Gesetzgebende Versammlung für eine Begnadigung von "Guadalupe", die nach einer Fehlgeburt wegen "Mordes" zu einer 30-jährigen Haftstrafe verurteilt worden war. "Guadalupe" hatte bis zu ihrer Freilassung bereits sieben Jahre in Haft verbracht. Die Behörden gestanden ein, dass es im ursprünglichen Gerichtsverfahren Justizirrtümer gegeben habe. Mehr als 15 Frauen befanden sich auf der Grundlage ähnlicher Anschuldigungen noch immer im Gefängnis.

Im März 2015 sprach der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung von El Salvador 14 Empfehlungen hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Rechte aus. Während El Salvador die Empfehlung akzeptierte, den Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdiensten, u. a. auch zu empfängnisverhütenden Mitteln, zu gewährleisten, nahm es die Empfehlung zur Entkri-minalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und zur Aufhebung ihres ausnahmslosen Verbots lediglich "zur Kenntnis". Zu der Empfehlung, alle wegen der Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs oder im Zusammenhang mit einer Fehlgeburt inhaftierten Frauen unverzüglich und bedingungslos freizulassen, äußerte sich El Salvador nicht.

Im November 2015 gab die Ombudsstelle für Menschenrechte (Procuraduría para la Defensa de los Derechos Humanos) einen Beschluss im Fall von María Teresa Rivera heraus, die zu 40 Jahren Haft verurteilt worden war, nachdem sie aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen eine Fehlgeburt erlitten hatte und fälschlich beschuldigt worden war, abgetrieben zu haben. Der Ombudsmann stellte fest, dass ihre Rechte auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren und die Un-schuldsvermutung verletzt wurde und ihre Mitschuld an der Fehlgeburt im Strafprozess nicht nachgewiesen worden war.

Menschenrechtsverteidiger

Die Zivilgesellschaftliche Gruppe für die Legalisierung der Therapeutischen, Ethischen und Eugenischen Schwangerschaftsabbrüche (Agrupación Ciudadana por la Despenalización del Aborto Terapéutico Ético y Eugenésico) und das Feministische Kollektiv für die lokale Entwicklung (Colectiva Feminista para el Desarrollo Local) – führende Organisationen bei der Förderung sexueller und reproduktiver Rechte – wurden von Beamten, Einzelpersonen und privaten Gruppen wegen ihrer Arbeit für die Rechte von Frauen schikaniert und stigmatisiert. Beide Organisationen wurden als "skrupellose Gruppen" und "unpatriotische Verräter" bezeichnet.

Menschenrechtsverteidiger, die sich für die Verteidigung und Förderung der sexuellen und reproduktiven Rechte einsetzten, wurden ebenfalls stigmatisiert, weil sie Frauen rechtlich unterstützten, die wegen Tötungsdelikten verurteilt worden waren, nachdem sie Komplikationen bei der Schwangerschaft erlitten hatten. Derartige Verleumdungskampagnen verstärkten die bereits bestehenden Risiken, denen Menschenrechtsverteidiger ausgesetzt waren. Die Behörden ergriffen keinerlei wirksame Maß-nahmen, um gegen die Stigmatisierung vorzugehen und die Risiken zu reduzieren.

Auch Personen, die sich für LGBTI einsetzten, berichteten über gewaltsame Übergriffe und Einschüchterungen. Im Mai 2015 wurde die transgeschlechtliche Aktivistin und Mitarbeiterin des Salvadorianischen Netzwerks von Verteidigerinnen der Menschenrechte (Red Salvadoreña de Defensoras de Derechos Humanos), Francela Méndez Rodríguez, ermordet. Bis zum Jahresende war niemand für diese Tat vor Gericht gestellt worden. Einige Organisationen berichteten über einen Anstieg der Schikanen und Gewalttaten von staatlichen Akteuren und anderen Personen gegen die Transgender-Gemeinschaft.

Straflosigkeit

Das Amnestiegesetz aus dem Jahr 1993, das den Opfern von Menschenrechtsverletzungen, die während des bewaffneten Konflikts (1980–92) verübt wurden, den Zugang zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verwehrt, blieb weiterhin in Kraft. Im April 2015 wurde der ehemalige General und Verteidigungsminister Eugenio Vides Casanova aus den USA nach El Salvador abgeschoben. Ein für Einwanderung zuständiger Richter in Florida hatte im Jahr 2012 entschieden, dass er wegen seiner Mitverantwortung für die von den Streitkräften während des bewaffneten Konflikts verübten Menschenrechtsverletzungen an El Salvador ausgeliefert werden solle. Bis Ende 2015 waren keine Informationen veröffentlicht worden, aus denen zu schließen war, dass sich Eugenio Vides Casanova in irgendeiner Form vor Gericht verantworten musste.

Im März 2015 rief der Ombudsmann für Menschenrechte die Behörden dazu auf, die noch immer allgemein verbreitete Straflosigkeit für die während des bewaffneten Konflikts verübten Menschenrechtsverletzungen zu überwinden. Der Ombudsmann hielt die Gesetzgebende Versammlung zudem dazu an, das Amnestiegesetz außer Kraft zu setzen, und forderte die Generalstaatsanwaltschaft eindringlich auf, die Ansprüche der Opfer von Menschenrechtsverletzungen wirksam zu untersuchen.

Im März 2015, mehr als ein Jahr nach einem Urteil der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, mit dem die Generalstaatsanwaltschaft angewiesen worden war, das im Jahr 1981 erfolgte Massaker von San Francisco Angulo gründlich zu untersuchen, forderte die Verfassungskammer den Generalstaatsanwalt auf, über den Stand der Untersuchungen zu berichten. Bei dem Massaker waren 45 Personen mutmaßlich von Angehörigen der Streitkräfte getötet worden. Fast zwei Monate später übermittelte der Generalstaatsanwalt einen Bericht, dem im Juli 2015 ein zweiter folgte, nachdem die Verfassungskammer um zusätzliche Angaben gebeten hatte. Bis zum Jahresende hatte die Verfassungskammer jedoch noch keine Entscheidung bekannt gegeben.

Im Juli 2015 erklärte die Verfassungskammer, dass die Streitkräfte die Verantwortung für das Verschwindenlassen von elf Personen im Zusammenhang mit der im Jahr 1982 durchgeführten militärischen "Säuberungsaktion" tragen. In ihrem Urteil wies die Verfassungskammer den Verteidigungsminister an, Informationen über die militärische Operation und im Besonderen über das Schicksal und den Verbleib der Opfer vorzulegen. Die Verfassungskammer forderte die Generalstaatsanwaltschaft zudem auf, die Untersuchung unverzüglich in Gang zu setzen.

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