Amnesty Report Russische Föderation 22. Februar 2015

Russische Föderation 2015

 

Die Medienvielfalt wurde 2014 deutlich eingeschränkt, und die Freiräume für abweichende Meinungen wurden zunehmend enger. Die 2012 eingeführten Restriktionen der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurden rigoros durchgesetzt und weiter verschärft. Einige NGOs wurden schikaniert, mit öffentlichen Schmutzkampagnen überzogen und unter Druck gesetzt, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren. Etliche Demonstrierende und zivilgesellschaftliche Aktivisten wurden nach unfairen, politisch motivierten Prozessen zu Haftstrafen verurteilt. Nach wie vor wurden Menschen gefoltert und misshandelt, ohne dass die Täter mit Bestrafung rechnen mussten. Die Lage im Nordkaukasus war weiterhin instabil und durch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet; den Opfern standen keine wirksamen rechtlichen Mittel zur Verfügung. Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Journalisten und Rechtsanwälte gingen bei ihrer Arbeit nach wie vor hohe persönliche Risiken ein.

Hintergrund

Zu den Olympischen Winterspielen im Februar 2014 kamen noch Sportler und Zuschauer aus aller Welt ins russische Sotschi. Nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im März und der anhaltenden Unterstützung der Separatisten im ostukrainischen Donbass war Russland gegen Ende des Jahres international jedoch weitgehend isoliert.

Die russische Regierung bediente sich einer zunehmend aggressiven antiwestlichen und anti-ukrainischen Rhetorik, und die von ihr kontrollierten Medien übernahmen diese bereitwillig. Trotz sich verschärfender wirtschaftlicher Schwierigkeiten und geplanter Kürzungen bei den Sozialausgaben, die zum Teil auf die Sanktionen des Westens und den Preisverfall von Russlands wichtigstem Exportgut Rohöl zurückzuführen waren, und trotz der Korruption im Land erfreute sich die russische Führung in der Öffentlichkeit wachsender Beliebtheit. Dies war wohl zu einem erheblichen Teil der Annexion der Krim zuzuschreiben, die in Zeiten der Sowjetunion bis 1954 unter russischer Verwaltung gestanden hatte.

Die Kämpfe in der Ukraine wurden auch nach dem Waffenstillstandsabkommen von Minsk im September fortgesetzt, wenn auch mit zunächst geringerer Intensität. Obwohl sich Beweise dafür mehrten, dass Russland den Separatisten in der Ostukraine militärische Ausrüstung, Soldaten und andere Hilfe zur Verfügung stellte, bestritt die russische Regierung dies beharrlich. Auf der besetzten Halbinsel Krim traten russische Gesetze in Kraft, die zu erheblichen Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit führten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Medien und Journalisten Die Regierung verstärkte die Kontrolle der wichtigsten Medien, was zu einem deutlichen Rückgang der Meinungsvielfalt führte. Ein Großteil der nominell nicht unter staatlicher Kontrolle stehenden Medien übte verstärkt Selbstzensur aus und bot regierungskritischen Ansichten kaum noch Raum. Der Druck auf unabhängige Medien nahm erheblich zu. Sie erhielten Verwarnungen von offizieller Seite, mussten sich von redaktionellen Mitarbeitern trennen und sahen sich mit Problemen in ihren Geschäftsbeziehungen konfrontiert. Medien in öffentlicher und privater Hand wurden dazu benutzt, um politische Gegner, unabhängige NGOs und andere kritische Stimmen zu diffamieren.

Ende Januar 2014 nahmen russische Kabel- und Satellitennetzbetreiber den Fernsehsender Doschd aus ihrem Angebot, nachdem der Sender eine kontroverse Debatte über die Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg entfacht hatte. Außerdem wurde dem Sender eine Verlängerung des Mietvertrags für seine Studioräume verweigert. Dabei wurde auf wirtschaftliche Gründe verwiesen, es war jedoch offensichtlich, dass die Entscheidung politisch motiviert war. Doschd war für seine unabhängige politische Berichterstattung bekannt, die auch oppositionelle Ansichten zu Wort kommen ließ und z.B. die Ereignisse auf dem Maidan in der ukrainischen Hauptstadt Kiew deutlich anders dargestellt hatte als die staatlichen Medien. Doschd konnte nur noch online senden und musste sich per Crowdfunding finanzieren, um zu überleben.

Nach einer Verwarnung durch die Medienaufsichtsbehörde (Roskomnadsor) setzte der Eigentümer des Onlineportals Lenta.ru die Chefredakteurin der Nachrichtenwebseite im März ab. Anlass war ein Interview mit einem rechtsgerichteten ukrainischen Nationalisten, der während der Maidan-Proteste bekannt geworden war. Aus Protest gegen die Entlassung der Chefredakteurin verließen viele Mitarbeiter das Nachrichtenportal. Die zuvor unabhängige redaktionelle Ausrichtung des Onlineangebots änderte sich anschließend grundlegend.

Die Behörden verschärften die Kontrolle des Internets. Nach einem neuen Gesetz, das im Februar 2014 in Kraft trat, konnte die Generalstaatsanwaltschaft die Medienaufsichtsbehörde anweisen, Webseiten wegen mutmaßlicher Verstöße, wie z.B. dem Aufruf zur Teilnahme an einer nicht genehmigten öffentlichen Versammlung, zu sperren. Eine richterliche Genehmigung war nicht notwendig.

Im März 2014 wurden die beliebten Nachrichtenportale Ezhednevnyi Zhurnal (Tagesjournal), Grani.ru und Kasparov.ru gesperrt, nachdem sie über spontane gewaltfreie Straßenproteste in Moskau berichtet hatten. Die Generalstaatsanwaltschaft wertete ihre wohlwollende Berichterstattung über die Demonstrationen als Aufruf zu weiteren "rechtswidrigen Handlungen". Die Auffassung der Staatsanwaltschaft wurde in mehreren Rechtsmittelverfahren bestätigt. Ende 2014 waren die Online-Dienste noch immer gesperrt.

Mehrere unabhängige Medien wurden von offizieller Seite verwarnt, weil sie angeblich "extremistische" oder sonstige rechtswidrige Inhalte verbreiteten. Der unabhängige Radiosender Echo Moskvy musste die Abschrift eines Studiogesprächs mit zwei Journalisten am 29. Oktober 2014 von seiner Webseite entfernen. Die Journalisten hatten die Kämpfe um den Flughafen von Donezk geschildert und pro-ukrainische Ansichten geäußert. Die Kontrollbehörde Roskomnadsor erhob den Vorwurf, in der Sendung sei "die Begehung von Kriegsverbrechen gerechtfertigt" worden. Der Moderator der Diskussion, Aleksandr Pliuschev, wurde später in anderem Zusammenhang – wegen einer persönlichen Twitternachricht – für zwei Monate vom Dienst suspendiert. Dies war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Chefredakteur Aleksey Venediktov und der Geschäftsführung von Gazprom Media, dem Hauptaktionär des Senders, die Aleksandr Pliuschev ursprünglich entlassen wollte und gedroht hatte, Aleksey Venediktov abzusetzen.

Es kam weiterhin zu tätlichen Angriffen auf Medienschaffende. Im August 2014 wurden mehrfach Journalisten angegriffen, die über geheime Beisetzungen von dem Vernehmen nach in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten berichten wollten.

Am 29. August 2014 wurde der Verleger der Zeitung Pskovskaya Guberniya, Lev Shlosberg, so brutal verprügelt, dass er mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die Zeitung hatte als erste über die geheimen Beerdigungen berichtet. Die Ermittlungen führten nicht zur Identifizierung der drei Angreifer und wurden Ende des Jahres eingestellt.

Timur Kuaschew, ein Journalist aus Kabardino-Balkarien, der eng mit örtlichen Menschenrechtsverteidigern zusammenarbeitete, wurde am 1. August 2014 tot aufgefunden. Berichten zufolge war ihm eine tödliche Injektion verabreicht worden. Die Fälle der in den vergangenen Jahren im Nordkaukasus getöteten Journalisten, unter ihnen Natalja Estemirowa, Chadschimurad Kamalow und Achmednabi Achmednabijew, wurden nicht wirksam untersucht, und die Täter blieben weiterhin im Dunkeln. Im Fall der im Oktober 2006 in Moskau ermordeten investigativen Journalistin Anna Politkowskaja wurden im Juni 2014 fünf Männer zu Haftstrafen verurteilt, doch die Auftraggeber wurden nicht identifiziert.

Engagierte Bürgerinnen und Bürger Auch Einzelpersonen und Gruppen von Menschen, die abweichende Meinungen vertraten, konnten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung 2014 nicht ausüben. Die Behörden nahmen Angehörige sexueller Minderheiten ins Visier und beriefen sich dabei u.a. auf das 2013 in Kraft getretene Gesetz, das "Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen" unter Strafe stellt. Aktivisten, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen (LGBTI) einsetzten, wurden konsequent daran gehindert, friedliche Versammlungen abzuhalten, selbst an Orten, die eigens für öffentliche Zusammenkünfte ohne vorherige Anmeldung vorgesehen waren, wie z.B. kaum besuchte Parks. In drei Fällen, bei denen die Veranstaltungen zunächst verboten worden waren, bestätigten Gerichte zwar das Recht der LGBTI-Aktivisten auf friedliche Versammlung; die Urteile hatten jedoch keine Präzedenzwirkung.

Im Januar 2014 wurde die Journalistin Elena Klimova aus der im Ural gelegenen Stadt Nischni Tagil wegen "Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen" unter Anklage gestellt. Sie hatte das Online-Projekt Children 404 gegründet, um LGBTI-Jugendliche zu unterstützen. Die Anklage scheiterte zunächst vor Gericht, wurde später dann aber erneut erhoben. Außerdem drohte man ihr mit der Schließung des Projekts. Bei der Premiere eines Films über Children 404 im April 2014 in Moskau drangen Protestierende in den Saal ein und störten die Veranstaltung mit beleidigenden Schmährufen. Sie wurden von bewaffneten Polizisten begleitet, die darauf bestanden, die Ausweise aller Anwesenden zu kontrollieren, um festzustellen, ob Minderjährige darunter waren.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Vergleich zu den Vorjahren gingen die Straßenproteste 2014 zwar zurück, im Februar und März sowie im Dezember kam es jedoch vermehrt zu Kundgebungen. Anlass waren die Prozesse gegen die Demonstrierenden vom Moskauer Bolotnaya-Platz, das militärische Eingreifen Russlands in der Ukraine, eine geplante Gesundheitsreform und die Verurteilung von Alexej und Oleg Nawalny.

Nach wie vor galten für öffentliche Versammlungen aufwendige Genehmigungsverfahren. Bis auf wenige Ausnahmen wurden öffentliche Protestkundgebungen verboten, stark eingeschränkt oder aufgelöst. Im Juli 2014 wurden die Geldbußen für Verstöße gegen das Gesetz über öffentliche Veranstaltungen deutlich erhöht und wiederholte Verstöße als Straftat definiert, die mit Freiheitsstrafen geahndet werden kann.

Die Verfahren gegen die Teilnehmer der Protestkundgebung auf dem Moskauer Bolotnaya-Platz im Mai 2012 wurden fortgesetzt: 2013/14 wurden insgesamt zehn Personen zu zweieinhalb bis viereinhalb Jahren Haft verurteilt, weil sie an gewalttätigen Ausschreitungen während der Demonstration beteiligt gewesen sein sollen, die von den Behörden als "Massenunruhen" eingestuft wurden. Sergei Udaltsov und Leonid Razvozzhaev wurden schuldig gesprochen, die "Massenunruhen" organisiert zu haben.

Am 20. und 24. Februar 2014 ging die Polizei gewaltsam gegen den friedlichen Protest Hunderter Menschen vor, die sich vor dem Moskauer Gerichtsgebäude versammelt hatten, in dem die Urteile im Bolotnaya-Verfahren verkündet werden sollten. Auch Versammlungen, die im Anschluss daran im Stadtzentrum stattfanden, wurden aufgelöst. Dabei wurden mehr als 600 Personen willkürlich festgenommen. Gegen die meisten von ihnen ergingen Geldbußen, mindestens sechs Personen wurden zu fünf bis 13 Tagen "Verwaltungshaft" verurteilt.

In den folgenden Wochen wurden zahlreiche Personen, die sich an gewaltlosen Protesten gegen das militärische Engagement Russlands in der Ukraine und gegen die Annexion der Krim beteiligten, festgenommen und mit Geldstrafen oder bisweilen auch Haftstrafen belegt. Demonstrationen, die das Vorgehen der russischen Regierung in der Ukraine unterstützten, konnten hingegen an zentralen Orten stattfinden, die oppositionellen Kundgebungen in der Regel verwehrt blieben.

In Samara erhielten mehrere engagierte Bürger anonyme Morddrohungen, nachdem sie am 2. März mehrere Ein-Personen-Demonstrationen veranstaltet hatten – die einzige Form von Protest, für die keine Genehmigung erforderlich ist.

Im August wurden drei Frauen vorübergehend auf einer Moskauer Polizeiwache festgehalten, weil sie Kleidung in Blau und Gelb trugen, den Farben der ukrainischen Flagge. Ähnliche Vorfälle wurden aus dem ganzen Land gemeldet.

Ende 2014 kam es in zahlreichen russischen Städten, zumeist ungehindert, zu kleineren Protestkundgebungen gegen geplante Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich. In Moskau wurden jedoch vier Protestierende zu fünf bis 15 Tagen Haft verurteilt, nachdem Demonstrierende kurzzeitig eine Straße blockiert hatten.

In dem politisch motivierten Strafverfahren gegen den Regierungsgegner Alexej Nawalny und seinen Bruder Oleg wurde am 30. Dezember 2014 in Moskau das Urteil verkündet – zwei Wochen früher als vorgesehen. Es kam zu spontanen Protesten, bei denen mehr als 200 Menschen festgenommen wurden. Gegen zwei Personen ergingen Haftstrafen von 15 Tagen, 67 weitere wurden über Nacht festgehalten und bis zu ihrem Verfahren im Januar 2015 auf freien Fuß gesetzt.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Zivilgesellschaftlich engagierte Bürgerinnen und Bürger mussten 2014 weiterhin mit Schikanen, öffentlichen Angriffen, Verleumdungen und in einigen Fällen auch mit Strafverfolgung rechnen.

Das gesamte Jahr über wurden unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen mit Hilfe des sogenannten Agentengesetzes unter Druck gesetzt. Das 2012 eingeführte Gesetz verpflichtet NGOs, die Gelder aus dem Ausland erhalten und nicht näher definierten "politischen Aktivitäten" nachgehen, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren und ihre Publikationen dementsprechend zu kennzeichnen. 2013 und 2014 mussten Hunderte von NGOs unangekündigte offizielle "Inspektionen" über sich ergehen lassen, Dutzende sahen sich zu langwierigen Gerichtsverfahren gezwungen, um sich gegen die Registrierung zur Wehr zu setzen. Im Mai 2014 wurde das Gesetz dahingehend geändert, dass das Justizministerium NGOs auch ohne ihre Zustimmung als "ausländische Agenten" registrieren kann. Bis Ende 2014 waren 29 NGOs auf diese Weise registriert worden, darunter mehrere führende Menschenrechtsorganisationen. Mindestens fünf NGOs beschlossen aufgrund dieser Schikanen, sich aufzulösen.

Mitglieder der NGO Ekovakhta (Umweltwacht Nordkaukasus), die Umweltschäden im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen in Sotschi dokumentierten, wurden im Vorfeld des Sportereignisses unentwegt von Sicherheitsbeamten schikaniert. Die beiden Mitglieder Jewgeni Witischko und Igor Chartschenko wurden wegen haltloser Vorwürfe festgenommen und während der Eröffnung der Spiele in Gewahrsam gehalten. Jewgeni Witischko verlor während seiner Haft ein Berufungsverfahren, bei dem es um unverhältnismäßige Anklagen ging, die ihn und seine NGO zum Schweigen bringen sollten. Er wurde zur Verbüßung einer dreijährigen Freiheitsstrafe umgehend in eine Strafkolonie verbracht. Im März 2014 musste Ekovakhta auf Anweisung eines Gerichts alle Tätigkeiten vorübergehend einstellen. Im November verfügte eine weitere Gerichtsentscheidung die Auflösung der NGO wegen eines geringfügigen formalen Verstoßes.

Das Justizministerium beantragte vor Gericht die Schließung der Organisation Memorial Russland, die als Dachorganisation für die russischen Gesellschaften von Memorial fungiert. Beanstandet wurden vermeintlich fehlerhafte Registrierungen. Die Anhörung wurde verschoben, weil sich die NGO um eine Berichtigung der Registrierung bemühte.

Folter und andere Misshandlungen

2014 gingen weiterhin Berichte über Folterungen und andere Misshandlungen aus dem ganzen Land ein. Opfer, die ihr Recht auf Entschädigung geltend machen wollten, wurden häufig unter Druck gesetzt, um sie zu einer Rücknahme ihrer Klage zu bewegen. Untersuchungen von Foltervorwürfen blieben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" wurden vor Gericht als Beweismittel anerkannt. Nur in einigen wenigen Fällen, in denen sich in der Regel Menschenrechtsorganisationen eingeschaltet hatten, wurde Anklage gegen die an der Folter beteiligten Staatsbediensteten erhoben.

Eine unabhängige Kontrollkommission dokumentierte wiederholt Hinweise auf Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen in der auch als Untersuchungsgefängnis dienenden Gefängniskolonie IK-5 in der Region Swerdlowsk. Im Juli 2014 forderten Kommissionsmitglieder die Behörden auf, Foltervorwürfen nachzugehen, die der Untersuchungshäftling E. G. erhoben hatte, und legten als Beweismittel Fotos seiner Verletzungen vor. In einer schriftlichen Antwort teilte die Staatsanwaltschaft mit, eine Befragung des Personals von IK-5 und eine Durchsicht der Verwaltungsunterlagen habe ergeben, dass in der Gefängniskolonie keine Gewalt gegen E. G. angewendet worden sei und die Verletzungen aus der Zeit vor seiner dortigen Inhaftierung stammten. Weitere Ermittlungen wurden nicht eingeleitet.

Nordkaukasus

Die Lage im Nordkaukasus war 2014 weiterhin instabil; bewaffnete Gruppen griffen wiederholt Angehörige der Sicherheitskräfte an. Bei verschiedenen Anschlägen sollen mehr als 200 Personen getötet worden sein, darunter zahlreiche Zivilpersonen. Bei Operationen von Sicherheitskräften u.a. in Dagestan, Kabardino-Balkarien und Tschetschenien kam es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen wie rechtswidrigen Festnahmen, Folter und anderen Misshandlungen, Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen.

Am 4. Dezember 2014 griffen bewaffnete Kämpfer in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny mehrere Regierungsgebäude an und töteten dabei mindestens einen Zivilisten und 14 Polizeibeamte. Am nächsten Tag kündigte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow öffentlich an, man werde die Angehörigen der bewaffneten Männer des Landes verweisen und ihre Häuser zerstören. Mindestens 15 Häuser mit Dutzenden von Bewohnern, darunter kleinen Kindern, wurden niedergebrannt oder zerstört. Als Menschenrechtsverteidiger am 11. Dezember in einer Pressekonferenz in Moskau dieses Vorgehen verurteilten und eine Untersuchung forderten, wurden sie mit Eiern beworfen. Über soziale Medien warf Ramsan Kadyrow dem Leiter der Menschenrechtsorganisation Joint Mobile Group, Igor Kalyapin vor, er unterstütze Terroristen. Am Abend des 13. Dezember wurde bei einem mutmaßlich durch Brandstiftung verursachten Feuer das Büro der Organisation in Grosny zerstört. Am Tag danach hielten Polizisten zwei Mitarbeiter ohne Erklärung mehrere Stunden lang fest, führten Leibesvisitationen durch und konfiszierten ihre Mobiltelefone sowie mehrere Fotoapparate und Computer.

Den Opfern von Menschenrechtsverletzungen standen nach wie vor praktisch keinerlei Rechtsmittel zur Verfügung, da die Strafjustiz weiterhin nicht effektiv arbeitete und von höchster politischer Stelle – zumeist heimlich – unter Druck gesetzt wurde. Präsident Kadyrow übte jedoch auch offen Kritik an tschetschenischen Richtern und Geschworenen, wenn sie in Strafverfahren Urteile verhängten, die seiner Ansicht nach zu mild ausfielen.

Über Menschenrechtsverletzungen zu berichten, war weiterhin schwierig und gefährlich. Man geht davon aus, dass viele Vorfälle nie öffentlich gemacht wurden. Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Journalisten und Rechtsanwälte, die sich mit Menschenrechtsverletzungen befassten, wurden häufig von Polizeikräften oder unbekannten Personen bedroht und schikaniert.

Der zivilgesellschaftlich engagierte Ruslan Kutaev wurde im Februar 2014 festgenommen und seinen Angaben zufolge u.a. mit heftigen Schlägen und Elektroschocks gefoltert. Die offensichtlich konstruierte Anklage gegen ihn lautete auf Heroinbesitz. Unabhängige Beobachter dokumentierten seine Verletzungen ausführlich. Die Ermittlungsbehörden akzeptierten jedoch die Erklärung der mutmaßlichen Täter, Kutaev habe sich die Verletzungen bei einem Sturz zugezogen, und weigerten sich, die Foltervorwürfe weiter zu untersuchen. Im Juli wurde Kutaev in einem unfairen Verfahren im tschetschenischen Urus-Martan zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt; im Oktober wurde das Strafmaß im Berufungsverfahren um zwei Monate reduziert.

Die dagestanische Rechtsanwältin Sapiyat Magomedova, die 2010 von Polizeibeamten heftig attackiert worden war, als sie in einer Polizeiwache einen inhaftierten Mandanten besuchen wollte, erhielt 2014 weiterhin anonyme Morddrohungen sowie offene und verhüllte Drohungen von Ermittlungsbeamten. Keiner ihrer offiziellen Beschwerden wurde nachgegangen. Obwohl die Strafverteidigerin um ihre Sicherheit und um das Wohl ihrer Kollegen und ihrer Familie besorgt war, setzte sie ihre anwaltliche Tätigkeit unbeirrt fort. Die Ermittlungen zu ihrer Misshandlung durch Polizeibeamte im Jahr 2010 wurden zwar formal wieder aufgenommen, doch waren keine Fortschritte zu verzeichnen, und die Behörden ließen keine Absicht erkennen, strafrechtlich gegen die mutmaßlichen Täter vorzugehen.

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