Amnesty Report Tunesien 23. Mai 2013

Tunesien 2013

 

Amtliche Bezeichnung: Tunesische Republik Staatsoberhaupt: Moncef Marzouki Regierungschef: Hamadi Jebali

Die Behörden schränkten das Recht auf freie Meinungsäußerung ein. Mehrere Personen wurden aufgrund von repressiven Gesetzen, die noch von der vorherigen Regierung erlassen worden waren, strafrechtlich verfolgt. Erneut trafen Berichte ein, denen zufolge die Polizei für Folter und andere Misshandlungen sowie exzessive Gewaltanwendung gegen Demonstrierende verantwortlich war. Angehörige von Menschen, die bei den Massenprotesten getötet oder verletzt worden waren, die im Januar 2011 zum Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben 'Ali geführt hatten, forderten 2012 weiterhin Gerechtigkeit und Entschädigungszahlungen. Einige ehemalige Staatsbedienstete mussten sich vor Gericht verantworten und erhielten Freiheitsstrafen. Frauen wurden weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Mindestens neun Menschen wurden zum Tode verurteilt, es fanden jedoch keine Hinrichtungen statt.

Hintergrund

Der im Januar 2011 verhängte Notstand wurde verlängert und blieb auch im gesamten Jahr 2012 in Kraft.

Die Koalitionsregierung, die im Oktober 2011 für ein Jahr gewählt worden war, blieb 2012 im Amt. Im Oktober kündigte sie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für Juni bzw. Juli 2013 an. Die Verfassunggebende Versammlung, deren Aufgabe es war, eine neue Verfassung auszuarbeiten, legte im August einen ersten Entwurf vor. Gleichzeitig teilte sie mit, dass sie mehr Zeit benötige als die ursprünglich vorgesehenen zwölf Monate. Daraufhin wurde ihr eine Frist bis Februar 2013 eingeräumt. Im Bezug auf die Menschenrechte bot der erste Entwurf aus verschiedenen Gründen Anlass zu Kritik. Dies galt insbesondere für Artikel, die den Status von Frauen und das Recht auf Leben betrafen. Für Kritik sorgte auch, dass Äußerungen, die als Beleidigung der Religion verstanden werden könnten, unter Strafe gestellt werden sollten.

Die islamistische Partei Ennahda brachte im August einen Gesetzentwurf in die Verfassunggebende Versammlung ein, wonach Taten, die als Beleidigung "der Religion und des Heiligen" gelten können, strafbar sein sollen. Ennahda ist die stärkste Partei innerhalb der Regierungskoalition. Ende 2012 waren die Beratungen der Verfassunggebenden Versammlung über den Gesetzentwurf noch nicht abgeschlossen.

Die Behörden unternahmen Schritte, um das Justizwesen zu reformieren und die Unabhängigkeit der Gerichte zu stärken. Im Mai 2012 entließ der Justizminister 82 Richter wegen Korruptionsvorwürfen, neun von ihnen wurden jedoch einen Monat später wieder eingestellt. Mehr als 700 Richter erhielten im September vom Obersten Justizrat (Conseil Supérieur de la Magistrature – CSM) neue Aufgabenbereiche zugeteilt oder wurden versetzt bzw. befördert. Politische Differenzen verhinderten, dass die Verfassunggebende Versammlung einen Gesetzentwurf verabschiedete, der den CSM durch einen Übergangsjustizrat ersetzt hätte. Der Gesetzentwurf enthielt keine ausreichenden Schutzklauseln gegen die willkürliche Entlassung oder Versetzung von Richtern. Er hätte der Regierung zudem eine erhebliche Einflussnahme auf den vorgesehenen neuen Justizrat eingeräumt. Im September ernannte sich der Justizminister selbst zum Vorsitzenden des CSM. Dieses Amt hatte zuvor der frühere Präsident Ben 'Ali inne gehabt.

Auch 2012 kam es zu öffentlichen Protesten und Demonstrationen, u.a. von religiösen Gruppen sowie Menschen, die zügigere Reformen und bessere Lebensbedingungen forderten. Aber auch Frauenrechtlerinnen und engagierte Bürger, die sich für eine Medienreform und mehr Meinungsfreiheit einsetzten, gingen auf die Straße. Bei einigen Kundgebungen kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, die von der Polizei mit – teilweise exzessiver – Gewalt bekämpft wurden. In Siliana, einer Stadt südwestlich von Tunis, sollen rund 300 Demonstrierende und Passanten verletzt worden sein, als die Polizei am 27., 28. und 29. November 2012 mit exzessiver Gewalt gegen Kundgebungen vorging. Die Protestierenden forderten den Rücktritt des Gouverneurs von Siliana, eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ihrer Stadt und die Freilassung von 13 Häftlingen, die bei Protesten im April 2011 festgenommen worden waren.

Der Polizei wurde jedoch auch vorgeworfen, mehrfach nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben, als Künstler, Schriftsteller und andere Personen von religiösen Extremisten gewaltsam attackiert wurden. Die Angreifer waren dem Vernehmen nach zumeist Salafisten (Sunniten, die eine Rückkehr zu den ihrer Meinung nach fundamentalen Prinzipien des Islam fordern). Die Angriffe richteten sich sowohl gegen mutmaßliche Alkoholhändler als auch gegen Kunstausstellungen, Kulturveranstaltungen und andere Anlässe. Im September wurde die US-Botschaft angegriffen, nachdem ein vermeintlich anti-islamischer Film im Internet aufgetaucht war.

Berichten zufolge wurden zahlreiche Salafisten nach diesen Übergriffen in Gewahrsam genommen. Mehr als 50 Häftlinge traten aus Protest gegen ihre Festnahme und ihre Haftbedingungen in einen Hungerstreik. Im November starben zwei von ihnen in Gewahrsam an den Folgen. Die meisten der Hungerstreikenden sollen ihren Protest Ende 2012 beendet haben. Nach der Festnahme eines weiteren Salafisten im Oktober überfielen Salafisten dem Vernehmen nach zwei Polizeiwachen in Manouba. Dabei wurden zwei Polizeibeamte getötet, zahlreiche weitere erlitten Verletzungen.

Im Mai 2012 beschäftigte sich der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung mit der Menschenrechtslage in Tunesien. Die Regierung akzeptierte die meisten der Empfehlungen des UN-Gremiums, lehnte einige jedoch auch ab. Dazu gehörten die Abschaffung des Straftatbestands Verleumdung, die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die Aufhebung von Gesetzen, die Frauen diskriminieren, sowie die Abschaffung der Todesstrafe.

Im September besuchten die Sonderberichterstatterinnen über Menschenrechtsverteidiger der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union Tunesien.

Übergangsjustiz

Im Januar 2012 schuf die Regierung ein Ministerium für Menschenrechte und Übergangsjustiz. Es soll Strategien zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit entwickeln und den Schutz der Menschenrechte in der Zukunft sicherstellen. Allerdings erklärte der neue Minister einen Monat später öffentlich, Homosexualität sei kein Menschenrecht, sondern eine "Perversion".

Im April bildete das Justizministerium einen Ausschuss aus Behördenvertretern und Angehörigen der Zivilgesellschaft, um mit Menschen im ganzen Land über Themen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Reformen zu beraten. Der Ausschuss erarbeitete einen Gesetzentwurf, der die Schaffung einer unabhängigen Kommission für Wahrheit und Würde (Commission de la vérité et de la dignité) vorsieht, die den Prozess der Übergangsjustiz maßgeblich bestimmen soll. Der Gesetzentwurf ging im Oktober an den Präsidenten und die Verfassunggebende Versammlung.

Im November besuchte der UN-Sonderberichterstatter über die Förderung der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Wiedergutmachung und der Garantien der Nichtwiederholung Tunesien. In seiner Stellungnahme äußerte er die Befürchtung, dass der Prozess der Übergangsjustiz in Tunesien nicht umfassend genug sei. Außerdem werde den vier Elementen der Übergangsjustiz – Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien der Nichtwiederholung – nicht dieselbe Bedeutung beigemessen.

Im Mai legte die sogenannte Bouderbala-Kommission ihren Bericht vor. Die Untersuchungskommission sollte Menschenrechtsverstöße aufklären, die ab dem 17. Dezember 2010 begangen worden waren. Der Bericht schilderte die Ereignisse während der Massenproteste, die zum Sturz der Regierung von Präsident Ben 'Ali führten, und verzeichnete die Namen der Getöteten und Verletzten. Der Kommission gelang es jedoch nicht, die Personen zu ermitteln, die für die Anwendung tödlicher Gewalt und andere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren.

Die Behörden boten den Angehörigen der Getöteten und den Verletzten Entschädigungszahlungen und medizinische Behandlung an. Doch wurde Kritik laut, die Zahlungen würden nicht die Schwere der Verletzungen und andere Faktoren berücksichtigen, wie z.B. den Verlust eines Studienplatzes oder einer Arbeitsstelle. Einige Familien von getöteten Demonstrierenden lehnten die finanzielle Entschädigung ab, weil nach ihrer Auffassung der Gerechtigkeit damit nicht Genüge getan war. Eine Reihe hochrangiger Staatsbediensteter, die unter Präsident Ben 'Ali im Amt gewesen waren, wurden im Zusammenhang mit den Tötungen von Demonstrierenden während der Proteste im Dezember 2010 und Januar 2011 schuldig gesprochen und erhielten lange Haftstrafen. Einige ehemalige Beamte auf unterer und mittlerer Ebene wurden verurteilt und inhaftiert, weil sie persönlich für die Erschießung von Protestierenden verantwortlich waren.

  • Im Juni 2012 wurde der ehemalige Innenminister Rafiq Belhaj Kacem von einem Militärgericht in Kef zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Das Urteil erging wegen Mitschuld an der Ermordung von Protestierenden in Kasserine, Thala, Kairouan und Tajerouine. Vier ehemalige hochrangige Mitarbeiter der Abteilung für Staatssicherheit (Direction de la sûreté de l’État – DSE) wurden für schuldig befunden und erhielten Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren. Gegen sechs ehemalige Beamte des mittleren Dienstes ergingen Haftstrafen wegen Mordes.

  • Der ehemalige Präsident Ben 'Ali wurde im Juli von einem Militärgericht in Tunis in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt, für die Tötungen und Verletzungen von Demonstrierenden im Großraum Tunis verantwortlich zu sein. 39 ehemalige Angehörige seiner Sicherheitskräfte erschienen vor Gericht. Sie wurden für schuldig befunden und zu Haftstrafen von bis zu 20 Jahren verurteilt. Gegen die Urteile wurden bei einem Militärberufungsgericht Rechtsmittel eingelegt. Ende 2012 war darüber noch nicht entschieden worden. Das Vorgehen gegen ehemalige Staatsbedienstete wegen Verbrechen, die während der Aufstände begangen worden waren, war aus verschiedenen Gründen kritikwürdig, insbesondere, weil die Prozesse vor Militärgerichten und nicht vor Zivilgerichten stattfanden. Opfer, Familienangehörige und Rechtsbeistände kritisierten, den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mangele es an Gründlichkeit. Außerdem klagten sie über Einschüchterungen durch Tatverdächtige und Angeklagte, die teilweise nach wie vor Führungspositionen innehatten.

Folter und andere Misshandlungen

2012 gingen erneut Berichte über Folter und andere Misshandlungen ein. Nach einer öffentlichen Anhörung teilte das Ministerium für Menschenrechte und Übergangsjustiz im August mit, man plane eine unabhängige nationale Einrichtung zur Bekämpfung von Folter. Sie solle die Befugnis für Besuche in Haftzentren erhalten, sich an Gesetzentwürfen beteiligen, einen jährlichen Bericht vorlegen und ihre Tätigkeit an internationalen Standards ausrichten.

  • Abderraouf Khemmassi starb am 8. September 2012 in Tunis in Polizeigewahrsam. Er war elf Tage zuvor wegen mutmaßlichen Diebstahls festgenommen worden. Bei einer Autopsie stellte man mehrere Verletzungen fest und gab als Todesursache einen Schlag gegen den Kopf an. Daraufhin wurden vier Polizeibeamte festgenommen und angeklagt, den Tod des Häftlings verursacht zu haben.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Obwohl die Behörden beteuerten, man werde das Recht auf freie Meinungsäußerung achten, gingen sie erneut gegen Journalisten, Künstler, Blogger und Regierungskritiker vor. Sie bezogen sich dabei auf die Artikel 121(3) und 226 des Strafgesetzbuchs. Diese stellen Meinungsäußerungen unter Strafe, die als Bedrohung der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Moral oder heiliger Werte angesehen werden. Im Oktober 2012 hieß es hingegen, man wolle künftig die Dekrete 115 und 116 aus dem Jahr 2011 anwenden, die sich auf die Presse und audiovisuelles Material beziehen.

  • Jabeur Mejri und Ghazi Beji wurden im März 2012 gemäß der Artikel 121(3) und 226 des Strafgesetzbuchs sowie Artikel 86 des Telekommunikationsgesetzes schuldig gesprochen, den Islam und die Muslime beleidigt zu haben. Die beiden Männer hatten Kommentare und Bilder des Propheten Mohammed im Internet veröffentlicht. Sie erhielten Geldbußen und Freiheitsstrafen von siebeneinhalb Jahren – das maximal zulässige Strafmaß. Am 25. Juni bestätigte das Berufungsgericht in Monastir die Urteile. Der Fall wurde an das Kassationsgericht weitergeleitet, das bis Jahresende noch nicht entschieden hatte. Ghazi Beji war aus Tunesien geflohen und wurde in Abwesenheit verurteilt. Jabeur Mejri befand sich Ende 2012 noch immer im Gefängnis von Mehdia.

Im Juni 2012 griffen Salafisten eine Kunstausstellung in Tunis an, da einige der gezeigten Kunstwerke ihrer Meinung nach den Islam beleidigten. In anderen Städten kam es daraufhin zu großen Protestkundgebungen. Im September stürmten Demonstrierende die US-Botschaft, nachdem ein vermeintlich islamfeindlicher Film im Internet veröffentlicht worden war. Bei den gewaltsamen Protesten wurden Berichten zufolge vier Menschen getötet, weitere erlitten Verletzungen.

  • Die beiden Künstler Nadia Jelassi und Mohamed Ben Slima mussten wegen der Kunstausstellung, die im Juni 2012 von Salafisten angegriffen wurde, zur Vernehmung beim Ermittlungsrichter erscheinen. Ihnen wurde vorgeworfen, heilige Werte angegriffen, gegen die guten Sitten verstoßen und die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Der Fall war Ende des Jahres noch anhängig.

  • Ayoub Massoudi wurde im September 2012 schuldig gesprochen, das Ansehen der Streitkräfte untergraben und einen Staatsbediensteten verleumdet zu haben. Er erhielt eine viermonatige Haftstrafe auf Bewährung und durfte vorerst nicht ins Ausland reisen. Massoudi war als Präsidentenberater zurückgetreten und hatte öffentlich die Auslieferung des ehemaligen libyschen Ministerpräsidenten Al-Baghdadi Ali al-Mahmudi von Tunesien an Libyen kritisiert. Er warf dem Verteidigungsminister und dem Oberbefehlshaber der Armee vor, den Präsidenten nicht über die geplante Auslieferung in Kenntnis gesetzt zu haben. Massoudi wurde aufgrund von Artikel 98 des Militärstrafgesetzbuchs und Artikel 128 des Strafgesetzbuchs der Prozess gemacht.

Frauenrechte

Frauen wurden weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Der UN-Menschenrechtsrat empfahl im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung, Gesetze abzuschaffen, die Frauen im Bezug auf das Erbrecht und das Sorgerecht für Kinder benachteiligten. Dies wurde von der Regierung jedoch zurückgewiesen. Das Strafgesetzbuch enthielt nach wie vor zahlreiche diskriminierende Regelungen. So konnte ein Täter, der eine minderjährige Frau entführt oder vergewaltigt hatte, der Strafverfolgung entgehen, indem er das Opfer heiratete.

  • Eine 27-jährige Frau beschuldigte zwei Polizeibeamte, sie vergewaltigt zu haben, während ein dritter versucht habe, von ihrem Verlobten Geld zu erpressen. Daraufhin wurde sie im September selbst wegen ungebührlichen Verhaltens angezeigt. Die Polizei gab an, man habe sie und ihren Verlobten in einer "verfänglichen Situation" vorgefunden. Das Paar musste vor einem Untersuchungsrichter erscheinen. Sie erstatteten Anzeige gegen die drei Polizeibeamten, die daraufhin festgenommen wurden und mit einem Strafverfahren rechnen mussten. Die Anklagen gegen die Frau und den Mann wurden später fallen gelassen.

Todesstrafe

Die Todesstrafe blieb 2012 in Kraft. Berichten zufolge wurden mindestens neun Todesurteile verhängt. Der UN-Menschenrechtsrat empfahl im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung, die Todesstrafe abzuschaffen. Dies wurde von der Regierung im September zurückgewiesen. Doch hielt sie das De-facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht, das seit 1991 gilt. Nach Angaben der Behörden wurden 2012 insgesamt 125 Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt. In den Todeszellen befanden sich Ende des Jahres nach offiziellen Informationen 179 Gefangene.

Schlagworte

Tunesien Amnesty Report

Weitere Artikel