Amnesty Report Haiti 23. Mai 2013

Haiti 2013

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Haiti Staatsoberhaupt: Michel Joseph Martelly Regierungschef: Laurent Lamothe (löste im Mai Gary Conille im Amt ab)

Mehr als 320000 Menschen, die durch das schwere Erdbeben im Januar 2010 obdachlos geworden waren, lebten 2012 noch immer in Notunterkünften. Tausende Binnenflüchtlinge wurden von lokalen Behörden und privaten Grundbesitzern rechtswidrig vertrieben. Frauen, die geschlechtsspezifische Gewalt zur Anzeige brachten, erhielten nur geringe Entschädigungen. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um gegen die Straflosigkeit bei Menschenrechtsverstößen vorzugehen, die in der Vergangenheit verübt worden waren.

Hintergrund

Zunehmende politische Spannungen zwischen dem Parlament und dem Präsidenten führten im Februar 2012, nur vier Monate nach seinem Amtsantritt, zum Rücktritt des Premierministers Garry Conille. Sein vom Präsidenten ausgewählter Nachfolger Laurent Lamothe trat sein Amt im Mai an. Während der letzten drei Monate des Berichtsjahres kam es in verschiedenen Landesteilen zu Demonstrationen gegen die anscheinende Unfähigkeit der Regierung, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Die Protestierenden forderten Präsident Michel Martelly zum Rücktritt auf.

Im August setzte Präsident Martelly den Ständigen Wahlrat ein. Da das Parlament aber keine Einigung über seine drei Vertreter im Rat erzielen konnte, wurden nur sechs der neun vorgesehenen Mitglieder ernannt. Die drei durch den Obersten Justizrat (Conseil Supérieur du Pouvoir Judicaire – CSPJ) erfolgten Ernennungen wurden wegen Verstoßes gegen die Auswahlbestimmungen angefochten. Im Oktober ernannte der CSPJ drei neue Repräsentanten. Die Schaffung eines Ständigen Wahlrats, einer Schlüsselinstitution bei der Organisation lokaler und allgemeiner Wahlen, war seit Annahme der Verfassung im Jahr 1987 anhängig gewesen.

Im Oktober 2012 erneuerte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der UN-Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH) für das neunte Jahr in Folge und empfahl die graduelle Verringerung der Zahl ihrer militärischen und polizeilichen Mitarbeiter. In der Öffentlichkeit wurde zunehmend Unzufriedenheit über MINUSTAH laut, insbesondere weil ein nepalesisches Bataillon der UN-Friedenstruppe für den Ausbruch der Cholera in Haiti verantwortlich gemacht wurde und Soldaten von MINUSTAH in etliche Fälle sexueller Gewalt verwickelt gewesen sein sollen.

Die Tropenstürme Isaac und Sandy, die Ende August bzw. Ende Oktober 2012 Haiti trafen, verschärften die Cholera-Epidemie, vergrößerten die Nahrungsmittelknappheit und ließen die Anzahl obdachloser Familien weiter ansteigen. Mehr als 15000 Haushalte in den Übergangslagern für Binnenflüchtlinge wurden von den Stürmen in Mitleidenschaft gezogen.

Die humanitäre Lage in Haiti war nach dem Erdbeben in mehreren Bereichen weiterhin besorgniserregend: Schutzmaßnahmen, Unterkünfte, Gesundheitsversorgung, Verfügbarkeit von Trinkwasser und der Zustand der Sanitäranlagen waren unzureichend. Der Ausbruch der Cholera, durch die im Berichtsjahr etwa 900 Menschen starben, verschlimmerte die Lage noch. Gleichzeitig behinderte das Fehlen finanzieller Mittel die in dieser Situation benötigte humanitäre Hilfe. Die nach dem Erdbeben erforderlichen Wiederaufbaumaßnahmen kamen nur langsam voran. Gründe dafür waren u.a. die politische Instabilität, die Schwäche der öffentlichen Institutionen und die Verzögerung bei der Auszahlung der finanziellen Hilfe, die die internationale Gemeinschaft zugesagt hatte. Bis September waren nur 279 Mio. US-Dollar der zugesagten 553 Mio. US-Dollar ausgezahlt worden.

Im Mai wurde der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte per Gesetz ratifiziert. Bis Ende 2012 hatte der Präsident das Gesetz jedoch noch nicht verkündet.

Binnenflüchtlinge

Mehr als 320000 Personen, die durch das Erdbeben im Januar 2010 obdachlos geworden waren, lebten Ende 2012 noch immer in provisorischen Lagern. Mit Unterstützung durch die Internationale Organisation für Migration und deren Partner verfolgte die Regierung weiterhin die Umsetzung von Rückkehr- und Umsiedlungsplänen für obdachlose Erdbebenopfer, die in den am stärksten dem Risiko von Naturkatastrophen ausgesetzten Lagern lebten. Im Verlauf des Jahres erhielten etwa 134000 Familien Hilfe, um die Lager verlassen zu können. Dazu zählten Mietbeihilfen oder die Bereitstellung temporärer Unterkünfte.

Die Lebensbedingungen in den Lagern waren weiterhin katastrophal. Zwar wurden die sanitären Anlagen in einigen Lagern verbessert, doch herrschte Besorgnis über die schlechte Qualität des Trinkwassers, auf die möglicherweise der Anstieg der registrierten Fälle von Cholera während der Regenzeit und der Hurrikansaison (April bis November) zurückzuführen war.

Recht auf Wohnen – Zwangsräumungen

In Port-au-Prince und anderen vom Erdbeben betroffenen Gebieten wurden die rechtswidrigen Zwangsräumungen der Unterkünfte von Binnenflüchtlingen fortgesetzt. Tausende Menschen wurden wieder obdachlos, nachdem ihre behelfsmäßigen Unterkünfte während der Zwangsräumungen, die ohne ordentliches Verfahren und angemessene vorherige Ankündigung oder Anhörung stattfanden, zerstört worden waren. Den Menschen, die ihre Unterkünfte verloren, wurden keine alternativen Wohnmöglichkeiten angeboten. Die Zwangsräumungen wurden von Nötigung, Schikanierung und Gewalt begleitet.

Die Zwangsräumungen trugen dazu bei, dass die Anzahl der Personen, die in provisorischen Lagern lebten, insgesamt abnahm und viele Lager geschlossen wurden. Zwischen Januar und Juni wurden nach Zwangsräumungen mehr als 30 Lager geschlossen, wovon mehr als 2140 Personen betroffen waren. Über 75000 Menschen lebten unter der ständigen Bedrohung, Opfer einer Zwangsräumung zu werden.

  • Im Mai 2012 führten örtliche Beamte, die von bewaffneten Mitgliedern der kommunalen Straßenkontrollbrigade und der nationalen Polizei begleitet wurden, im Lager Mozayik in Port-au-Prince eine Zwangsräumung der Unterkünfte von 131 Familien durch. Ehemalige Bewohner des Lagers sagten aus, dass Beamte ihre Häuser niedergerissen und ihre Habseligkeiten zerstört hätten. Niemand erhielt eine alternative Unterkunft oder wurde vorher über die Räumung informiert.

  • Im Juli 2012 versuchten die Behörden 142 Familien zu vertreiben, die einer Gemeinschaft angehörten, die sich in den 1980er Jahren im Nationalpark La Visite, einem Naturreservat im Département Sud-Est, angesiedelt hatte.

Augenzeugenberichten zufolge waren 30 Polizeibeamte und 20 bewaffnete Zivilpersonen angerückt, um die Zwangsräumung durchzuführen. Mitglieder der Gemeinschaft bewarfen die Polizisten mit Steinen, als diese damit begannen, Häuser zu zerstören. Daraufhin eröffneten die Polizisten das Feuer und töteten vier Männer. Die Behörden bestritten jede Beteiligung an diesen Straftaten. Bis zum Jahresende wurden keinerlei Ermittlungen zur Aufklärung der Todesschüsse durchgeführt.

Die Regierung legte im April 2012 erstmals einen Konzeptentwurf für eine nationale Wohnungspolitik vor. Kritisiert wurde daran u.a., dass in dem Entwurf menschenrechtliche Fragen unberücksichtigt blieben und auch nicht auf rechtswidrige Zwangsräumungen eingegangen wurde.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen waren nach wie vor sexueller Gewalt ausgesetzt. Berichten von Frauenrechtsorganisationen zufolge waren insbesondere die in Lagern für Binnenflüchtlinge lebenden Frauen gefährdet, Opfer sexueller Gewalt oder sexueller Ausbeutung zu werden. Getrieben von Armut, boten Frauen und Mädchen weiterhin sexuelle Handlungen gegen Geld oder Waren an, um ihr Überleben sicherzustellen. Haitis Polizei und Justizwesen erzielte zwar gewisse Fortschritte im Kampf gegen sexuelle Gewalt, den Frauen, die Opfer sexueller Straftaten geworden waren, wurde aber kaum eine Möglichkeit geboten, Gerechtigkeit und Entschädigung zu erlangen.

Straflosigkeit

Die Verantwortlichen für die während der vergangenen vier Jahrzehnte verübten schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter Verschwindenlassen, Folter, Vergewaltigung und außergerichtliche Hinrichtungen, entzogen sich 2012 weiterhin der Justiz.

Im Januar wies ein Ermittlungsrichter Klagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab, die von 22 Opfern gegen den früheren Präsidenten Jean-Claude Duvalier erhoben worden waren. Der Richter vertrat die Ansicht, dass gegen Jean-Claude Duvalier nur wegen Korruption und Veruntreuung von öffentlichen Geldern verhandelt werden könne. Im Widerspruch zu Haitis völkerrechtlichen Verpflichtungen führte der Richter in seinem Bericht aus, dass Haitis Gerichte keine Befugnis besäßen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Bis zum Jahresende war über Rechtsmittel, die von den Opfern und ihren Familienmitgliedern eingelegt worden waren, noch keine Entscheidung gefallen.

Justizwesen

lm Juli 2012 wurde schließlich der Oberste Justizrat eingerichtet. Interne Spaltungen, die zum zeitweiligen Ausscheiden von zwei seiner Mitglieder führten, darunter der Repräsentant des Menschenrechtssektors, behinderten jedoch seine Funktionsfähigkeit. Der Rat ist eine Schlüsselinstitution für die Reform und Unabhängigkeit des Justizwesens. Eine seiner Hauptaufgaben ist die Bestätigung der Ernennung neuer Richter. Nach Informationen haitianischer Menschenrechtsorganisationen wurden jedoch Richter weiterhin ohne Zustimmung des Rates ernannt.

Am 28. September wurde der Generalstaatsanwalt von Port-au-Prince, Jean Renel Sénatus, entlassen. In einem Interview, das er einem lokalen Radiosender gab, sagte er, dass er aus seinem Amt entfernt worden sei, weil er sich geweigert habe, die ministerielle Anordnung zu befolgen, 36 Mitglieder der politischen Opposition festzunehmen, darunter der Menschenrechtsanwalt Mario Joseph und die auf Fälle von Korruption spezialisierten Anwälte Newton St-Juste und André Michel. Im Oktober wurde Lucman Delille zum Generalstaatsanwalt von Port-au-Prince ernannt. Es handelte sich um die achte Besetzung dieses Postens seit dem Amtsantritt von Präsident Martelly.

Die Behörden ergriffen keine wirksamen Maßnahmen, um das Problem der übermäßig langen Untersuchungshaft anzugehen.

Amnesty International: Missionen

Delegierte von Amnesty International besuchten Haiti in den Monaten Mai und Juli 2012.

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