Amnesty Report Libanon 10. Mai 2011

Libanon 2011

 

Amtliche Bezeichnung: Libanesische Republik Staatsoberhaupt: Michel Suleiman Regierungschef: Saad Hariri Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 4,3 Mio. Lebenserwartung: 72,4 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 31/21 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 89,6%

Palästinensische Flüchtlinge litten weiterhin unter Diskriminierung und hatten keinen angemessenen Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitssystem, zu Bildung und Wohnraum. Mindestens 23 anerkannte irakische Flüchtlinge wurden Berichten zufolge ausgewiesen. Zahlreiche weitere Flüchtlinge und Asylsuchende waren offenbar willkürlich inhaftiert. Mindestens 19 Personen wurden nach unfairen Gerichtsverfahren der Kollaboration mit Israel oder der Spionage für das Land schuldig gesprochen, gegen zwölf von ihnen erging dem Vernehmen nach die Todesstrafe. Es trafen erneut Berichte über Folterungen von Häftlingen ein. Diskriminierung und Missbrauch von Arbeitsmigranten blieben an der Tagesordnung. Die Behörden leiteten 2010 nur wenige Schritte ein, um das Schicksal mehrerer tausend Menschen aufzuklären, die während des Bürgerkriegs 1975–90 dem "Verschwindenlassen" zum Opfer gefallen waren.

Hintergrund

Die Spannungen im Land und innerhalb der fragilen Regierung der nationalen Einheit nahmen zu. Dazu trugen Berichte bei, denen zufolge Mitglieder der Hisbollah vor dem Sondergerichtshof für den Libanon (Special Tribunal for Lebanon – STL) angeklagt werden würden, an der Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri im Jahr 2005 beteiligt gewesen zu sein. Die Hisbollah rief zu einem Boykott des STL auf und warf dem Gericht vor, politisch beeinflusst zu sein. Auch sei das Gericht früher erhobenen Vorwürfen nicht nachgegangen, was dazu geführt habe, dass vier ehemalige Führungskräfte der libanesischen Sicherheits- und Geheimdienste seit fast vier Jahren ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert seien. Im September 2010 erklärte Ministerpräsident Saad Hariri, es sei ein Fehler gewesen, der syrischen Regierung die Ermordung seines Vaters anzulasten.

Unter den 16 Menschen, die durch politisch motivierte Gewalt ums Leben kamen oder von den Sicherheitskräften getötet wurden, befanden sich mindestens sieben Zivilpersonen. Bei einem Vorfall, bei dem möglicherweise unangemessene Gewalt angewandt wurde, erschoss die Grenzpolizei im November in der Nähe des Dorfs Wadi Khaled im Norden Libanons zwei Zivilpersonen. Berichten zufolge waren die beiden auf einem Motorrad unterwegs und hatten nicht angehalten. Zwei weitere Zivilpersonen wurden von der Grenzpolizei während einer Protestkundgebung gegen die Tötungen erschossen.

Es gab weiterhin starke Spannungen an der Grenze zu Israel im Süden des Landes. Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe drangen wiederholt in den libanesischen Luftraum ein. Israelische Streitkräfte hielten weiterhin Teile des Dorfs Ghajar besetzt. Im August 2010 kamen mindestens zwei libanesische Soldaten, ein libanesischer Journalist und ein israelischer Soldat bei einem grenzüberschreitenden Zusammenstoß ums Leben.

Mindestens zwei Menschen verloren durch israelische Streubomben und Landminen ihr Leben, andere wurden verletzt. Die Munition war nach den Kampfhandlungen der vorhergehenden Jahre im Süden Libanons verblieben.

Das parlamentarische Menschenrechtsausschuss des Libanon arbeitete weiter an einem Entwurf für einen nationalen Aktionsplan für Menschenrechte.

Im November befasste sich der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) mit der Lage der Menschenrechte im Libanon. Das Land erklärte sich bereit, alle notwendigen Schritte einzuleiten, um Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu unterbinden.

Unfaire Gerichtsverfahren

Mindestens 20 Menschen wurden wegen Verstößen gegen die Sicherheit vor Gericht gestellt. Ihre Prozesse entsprachen nicht den Grundsätzen der Fairness.

Mehr als 120 Personen, die im Verdacht standen, mit der bewaffneten Gruppe Fatah al-Islam in Verbindung zu stehen, warteten weiterhin auf ihren Prozess vor dem Justizrat (Judicial Council). Sie waren seit 2007 ohne Anklageerhebung inhaftiert. Berichten zufolge wurden die meisten von ihnen gefoltert. Dem Justizrat mangelt es nach allgemeiner Einschätzung an Unabhängigkeit. Gegen seine Urteile können keine Rechtsmittel eingelegt werden. Dies gilt auch für Todesurteile. Die Beschuldigten müssen häufig lange Zeit auf ihr Verfahren warten, ohne offiziell angeklagt zu sein.

Zahlreiche Personen wurden festgenommen, weil man sie verdächtigte, mit Israel zu kollaborieren oder für Israel zu spionieren. Mindestens 19 von ihnen wurden nach unfairen Prozessen vor Militärgerichten zu Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. Verfahren vor Militärgerichten sind unfair, weil es sich bei den Richtern überwiegend um aktive Angehörige der Streitkräfte handelt. Außerdem dürfen Zivilisten nicht der Militärjustiz unterstellt werden.

  • Gegen den palästinensischen Flüchtling Maher Sukkar und zehn weitere Angeklagte begann 2010 ein Prozess vor einem Militärgericht. Die Anklage lautete auf Gefährdung der Sicherheit, u.a. durch "Gründung einer bewaffneten Bande mit dem Ziel, Straftaten gegen Menschen und Eigentum zu begehen". Nach Angaben des Angeklagten war er im April während seiner Untersuchungshaft ohne Kontakt zur Außenwelt unter Folter gezwungen worden, ein "Geständnis" zu unterzeichnen. Diesem Vorwurf wurde nicht nachgegangen.

  • Der Prozess gegen Kamal al-Na’san, Mustafa Sayw und weitere Angeklagte vor dem Justizrat wurde 2010 fortgesetzt. Ihnen wurde zur Last gelegt, im Jahr 2007 an einem Bombenanschlag auf einen Bus in ’Ayn ’Alaq beteiligt gewesen zu sein, bei dem drei Menschen ums Leben gekommen waren. Kamal al-Na’san und Mustafa Sayw waren Anfang 2007 festgenommen und anschließend beim Nachrichtendienst des Inneren Sicherheitsdienstes (Internal Security Forces – ISF) in Beirut neun bzw. 26 Monate in Einzelhaft gehalten worden. Dort wurden sie dem Vernehmen nach gefoltert und anderweitig misshandelt. Kamal al-Na’san zog vor Gericht einen Teil seines "Geständnisses" mit der Begründung zurück, man habe ihn zu der Aussage gezwungen. Soweit bekannt, wurden die Foltervorwürfe nicht untersucht.

Folter und andere Misshandlungen

Auch 2010 trafen Berichte über Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen ein. Es wurde nur wenig getan, um diesen Missständen Einhalt zu gebieten. Die Behörden stimmten allerdings einem Besuch des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter im Mai zu. Im November kündigten sie an, künftig alle Formen von Folter und Misshandlung unter Strafe zu stellen. Trotzdem befanden sich weiterhin Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft. Foltervorwürfe wurden nicht untersucht, und "Geständnisse", die dem Vernehmen nach unter Zwang zustande gekommen waren, wurden noch immer von Gerichten als Beweismittel zugelassen. Die Regierung blieb ein weiteres Jahr ihren ersten Bericht zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe schuldig. Der Libanon hatte die Konvention im Jahr 2000 ratifiziert. Noch immer wurde auch keine unabhängige Kommission zur Inspektion von Haftzentren geschaffen, wie sie im Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter verlangt wird. Der Libanon ist seit 2008 Vertragsstaat des Protokolls.

  • Mohammad Osman Zayat wurde dem Vernehmen nach am 24. Juni 2010 bei seiner Festnahme durch ISF-Beamte in Zivil brutal geschlagen. Während seiner Haft beim Nachrichtendienst des ISF in Beirut musste er mehrmals in schmerzhaften Positionen stehend verharren, wurde geschlagen und mit Elektroschocks an empfindlichen Teilen seines Körpers gequält. Daraufhin unterzeichnete er "Geständnisse", die während seiner Gerichtsverhandlung voraussichtlich gegen ihn verwendet werden.

Diskriminierung – Palästinensische Flüchtlinge

Im August 2010 wurden zwei Änderungen zu den Arbeits- und Sozialversicherungsgesetzen verabschiedet, die aber keinen nennenswerten Abbau der diskriminierenden Gesetze und Bestimmungen gegen die rund 300000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon beinhalteten. Ihnen wurden nach wie vor Grundrechte vorenthalten, wie z.B. das Recht, Wohneigentum zu erben. Auch der Zugang zu rund 20 Berufen wurde ihnen weiterhin verwehrt. Eine Gesetzesänderung schaffte die Gebühren ab, die palästinensische Flüchtlinge für Arbeitsgenehmigungen bezahlen mussten. Bei der Erteilung der Arbeitsgenehmigungen gab es jedoch noch immer verwaltungstechnische und andere Probleme, so dass kaum neue Genehmigungen erteilt wurden. Die zweite Gesetzesänderung ebnete Palästinensern den Weg zur Altersversorgung, doch waren die Leistungen an einen Arbeitgeberfonds geknüpft, den es erst noch zu schaffen galt. Der Zugang zur Krankenversicherung oder anderen Leistungen blieb Palästinensern weiterhin verwehrt.

Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen

Im Mai 2010 hob das Berufungsgericht das Urteil eines untergeordneten Gerichts auf, das Frauen das Recht zuerkannt hatte, ihre Staatsbürgerschaft auf ihre Kinder zu übertragen. Frau Samira Soueidan war dieses Recht im Juni 2009 zugesprochen worden, doch hatte der Justizminister Berufung gegen das Urteil eingelegt. Nach libanesischem Recht kann die Staatsbürgerschaft nur durch den Vater des Kindes weitergegeben werden.

Weibliche ausländische Hausangestellte waren weiterhin weder gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz noch gegen körperliche, sexuelle und seelische Misshandlungen geschützt. Im Juni wurde von einem seltenen strafrechtlichen Verfahren berichtet. Eine Libanesin erhielt eine einmonatige Haftstrafe sowie eine Geldbuße, weil sie eine Frau aus Sri Lanka, die bei ihr als Hausangestellte arbeitete, geschlagen und misshandelt hatte.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Zahlreiche Flüchtlinge und Asylsuchende, meist Iraker und Sudanesen, blieben trotz Freispruchs oder ungeachtet des Ablaufs ihrer Haftstrafen, die wegen illegaler Einreise in den Libanon gegen sie verhängt worden waren, in staatlichem Gewahrsam. Viele der Gefangenen wurden unter harten Bedingungen in einer unterirdischen Hafteinrichtung im Beiruter Stadtteil ’Adliyeh festgehalten. Man stellte sie vor die Wahl, entweder auf unbegrenzte Zeit dort zu verbleiben oder "freiwillig" in ihre Heimatländer zurückzukehren. Mindestens 23 anerkannte irakische Flüchtlinge wurden Berichten zufolge unter Verstoß gegen das Völkerrecht des Landes verwiesen.

  • Am 10. November 2010 wurde der irakische Flüchtling Alaa al-Sayad aus der Hafteinrichtung in ’Adliyeh abgeholt. Dem Vernehmen nach wurde er brutal geschlagen, als Sicherheitskräfte ihn zwangen, ein Flugzeug zu besteigen, das ihn gegen seinen Willen in den Irak zurückbrachte.

Rund 20 000 palästinensische Flüchtlinge, die im Jahr 2007 während der 15 Wochen andauernden Kampfhandlungen zwischen der libanesischen Armee und Fatah al-Islam gezwungen waren, das Gebiet des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared zu verlassen, waren aufgrund der Zerstörungen und der Verzögerungen beim Wiederaufbau noch immer Vertriebene. Ungefähr 11000 Menschen war es möglich gewesen, in die nähere Umgebung des Flüchtlingslagers zurückzukehren.

»Verschwindenlassen« und Entführungen

Die Regierung unternahm kaum etwas, um das Schicksal Tausender aufzuklären, die während des Bürgerkriegs 1975–90 dem "Verschwindenlassen" zum Opfer gefallen waren. Daran änderten auch die fortgesetzten Kampagnen der Familienangehörigen der "Verschwundenen" nichts, die sich bemühten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Allerdings blieben führende Regierungsmitglieder dem Arabischen Gipfeltreffen im März in Libyen fern. Sie protestierten damit gegen den libyschen Staatschef Mu’ammar al-Gaddafi, der an der Entführung und dem "Verschwinden" des schiitischen Imams Musa al-Sadr und zwei seiner Begleiter im Jahr 1978 beteiligt gewesen sein soll.

Der Ministerrat stellte einem Gericht für eine Anhörung einen kurzen Bericht über Massengräber zur Verfügung. Der Prozess war von zwei NGOs angestrengt worden, die im Namen von Familienangehörigen "verschwundener" oder verschleppter Personen auftraten, und betraf drei Massengräber, die in einem offiziellen Bericht aus dem Jahr 2000 erwähnt worden waren. Die Angehörigen hatten die Hoffnung, die Gräber könnten geschützt und die Leichen identifiziert werden.

Todesstrafe

Gegen mindestens zwölf Menschen wurde Berichten zufolge die Todesstrafe verhängt, fünf von ihnen wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Alle waren der Kollaboration mit Israel oder der Spionage für das Land schuldig gesprochen worden. Im Juni erklärte Präsident Suleiman, er sei gewillt, Hinrichtungsbefehle gegen zum Tode verurteilte "Agenten Israels" zu unterzeichnen. Zahlreiche Gefangene saßen weiterhin in den Todeszellen, es fanden jedoch 2010 keine Hinrichtungen statt. Der Libanon hielt somit an einem Hinrichtungsmoratorium fest, das seit 2004 in Kraft ist.

  • Am 18. Februar 2010 wurde Mahmoud Rafeh wegen "Kollaboration und feindlicher Spionage" von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Er gab an, unter Folter zu einem "Geständnis" gezwungen worden zu sein. Das Gericht ordnete jedoch keine Untersuchung dieser Vorwürfe an.

Amnesty International: Mission

Eine Delegation von Amnesty International stattete dem Libanon im Oktober einen Besuch ab, um sich ein Bild von der Menschenrechtssituation zu machen.

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