Amnesty Report Deutschland 18. Mai 2010

Deutschland 2010

 

Amtliche Bezeichnung: Bundesrepublik Deutschland Staatsoberhaupt: Horst Köhler Regierungschefin: Angela Merkel Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 82,2 Mio. Lebenserwartung: 79,8 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 5/5 pro 1000 Lebendgeburten

Die Regierung setzte Personen der Gefahr schwerer Menschenrechtsverletzungen aus und untergrub das absolute Folterverbot, da sie sich bei geplanten Abschiebungen nach wie vor auf "diplomatische Zusicherungen" verließ. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss schloss seine Untersuchungen zur Beteiligung der deutschen Behörden am US-Programm geheimer rechtswidriger Gefangenenüberstellungen (renditions) und weiterer Verstöße im Zusammenhang mit Antiterrormaßnahmen ab. Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel wurden nach wie vor ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vorenthalten.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

In zwei Strafverfahren gegen Terrorverdächtige bestand Anlass zu Befürchtungen, dass mutmaßlich unter Folter erlangte Beweise genutzt wurden.

In einem Fall, der von Dezember 2008 bis Juli 2009 vor dem Oberlandesgericht Koblenz verhandelt wurde, basierte die Anklage teilweise auf Aussagen des Angeklagten, die er in pakistanischer Haft gemacht hatte, wo er seinen Angaben zufolge geschlagen worden war und man ihn am Schlafen gehindert hatte.

Im April 2000 wurde bekannt, dass deutsche Ermittler im Juni und September 2008 in Taschkent in Anwesenheit des usbekischen Staatssicherheitsdienstes einen inhaftierten Zeugen befragt hatten. In Usbekistan werden Gefangene bekanntermaßen systematisch gefoltert. Die Befragung war Teil der strafrechtlichen Ermittlungen in einem vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf verhandelten Fall.

Im Oktober traten Allgemeine Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz in Kraft. Die neuen Vorschriften sehen vor, dass "diplomatische Zusicherungen" eingeholt werden können, um für Terrorverdächtige, die in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden sollen, die Gefahr der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszuschließen. Nach Auffassung von Amnesty International sind derartige Zusicherungen unzuverlässig und stellen keinen wirksamen Schutz vor Folterungen dar.

Die Behörden betrachteten "diplomatische Zusicherungen" der tunesischen Regierung weiterhin als ausreichend, um die Foltergefahr bei geplanten Abschiebungen tunesischer Staatsbürger auszuschließen, die verdächtigt werden, terroristische Aktivitäten unterstützt zu haben.

  • Im März 2009 entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf im Fall eines tunesischen Staatsbürgers, dass "diplomatische Zusicherungen" das absolute Folterverbot untergraben, und untersagte die Abschiebung des Betroffenen. Die Behörden legten gegen diese Entscheidung Rechtsmittel ein; das Verfahren war Ende des Jahres noch anhängig.

Der Bundestag beriet im Juli 2009 über den Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses über geheime Inhaftierungen und rechtswidrige Gefangenenüberstellungen. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass weder die Regierung noch die Geheimdienste direkt oder indirekt daran beteiligt waren. Amnesty International hingegen gelangte zu der Auffassung, dass sowohl die Untersuchung als auch der Bericht ausreichend Hinweise dafür lieferten, dass Deutschland für Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich ist. Amnesty kritisierte den Bundestag dafür, keine Maßnahmen eingeleitet zu haben, um derartige Verstöße in Zukunft zu verhindern. Am 17. Juni entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Regierung gegen das Grundgesetz verstoßen habe, indem sie dem Untersuchungsausschuss relevante Dokumente vorenthalten hatte, die nach Auffassung der Regierung geheim bleiben müssen, um staatliche Belange zu schützen. Der Untersuchungsausschuss nahm seine Arbeit nicht wieder auf.

Flüchtlinge und Asylbewerber

Die Anzahl der Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nach Syrien nahm erheblich zu, nachdem im Januar 2009 ein deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen in Kraft getreten war. Nachdem Berichte bekannt wurden, denen zufolge abgeschobene Asylbewerber in Syrien inhaftiert worden waren, ordnete die deutsche Regierung Mitte Dezember eine Neubewertung der Gefahrensituation an und empfahl ein De-facto-Moratorium für Abschiebungen nach Syrien.

  • Khaled Kenjo, ein aus Deutschland abgeschobener syrischer Kurde, wurde zwölf Tage nach seiner Ankunft in Syrien am 13. September 2009 von Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes festgenommen. Nach dreiwöchiger Haft ohne Kontakt zur Außenwelt, in der er seinen Angaben zufolge gefoltert wurde, stellte man Khaled Kenjo unter Anklage, im Ausland "Falschmeldungen" verbreitet zu haben, die dem Ansehen des Staates schaden könnten. Die vom Militärgericht in Qamishli erhobene Anklage soll sich auf seine politischen Aktivitäten in Deutschland bezogen haben.

Die Regierung verhandelte über ein Rückübernahmeabkommen mit dem Kosovo. Mehrere Bundesländer schoben Angehörige der Roma in den Kosovo ab, obwohl ihnen dort Gefahren drohten. Im November äußerte der Menschenrechtskommissar des Europarats Kritik an dieser Praxis.

Migranten

Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel hatten nur eingeschränkten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung sowie zu Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Zudem hatten sie nur beschränkte Möglichkeiten, ihre Arbeitnehmerrechte gerichtlich geltend zu machen. Das Bundesland Hessen plante zum 1. Januar 2010 seine Bestimmungen dahingehend zu ändern, dass Schulleiter nicht mehr verpflichtet sind, die Identität eines Kindes der Ausländerbehörde zu übermitteln, bei der alle ausländischen Staatsbürger gemeldet sein müssen. Neue Allgemeine Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz sehen vor, dass öffentliche Krankenhäuser bei Notfallbehandlungen nicht mehr verpflichtet sind, den Behörden die Identität von Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel zu melden.

Polizei und Sicherheitskräfte

Im Dezember fand vor dem Bundesgerichtshof eine öffentliche Anhörung im Fall Oury Jalloh statt, der 2005 in Polizeigewahrsam infolge eines Brandes in seiner Zelle an einem Hitzeschock gestorben war. Der Bundesgerichtshof kritisierte bei der Verhandlung die Ermittlungen in dem Fall. Die Familienangehörigen von Oury Jalloh legten Rechtsmittel gegen das Urteil des Landgerichts Dessau ein, das zwei Polizisten freigesprochen hatte.

Im Mai nahm die Bundesstelle zur Verhütung von Folter ihre Arbeit auf der Grundlage von Artikel 3 des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter auf. Es kam Kritik daran auf, dass die Stelle personell und finanziell unzureichend ausgestattet ist.

Kritik an Kundus-Bombardierung

Nach der Bundestagswahl im September 2009 wurden Regierung und Bundeswehr in den Medien und von Oppositionsparteien scharf kritisiert, weil sie Informationen im Zusammenhang mit einem NATO-Luftangriff vom 4. September in der Nähe von Kundus in Afghanistan zurückgehalten hätten. Bei dem Luftangriff waren bis zu 142 Personen getötet worden, darunter auch Zivilisten (siehe Länderbericht Afghanistan). Daraufhin mussten im November drei hochrangige Regierungsvertreter und Bundeswehrangehörige zurücktreten. Am 16. Dezember nahm ein parlamentarischer Ausschuss die Untersuchung des Umgangs der Bundesregierung mit dem Angriff und dessen Folgen auf.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Im Juli 2009 zog die Bundesregierung die Exportkreditgarantien zurück, die sie einem deutschen Unternehmen für Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Ilisu-Staudammprojekt in der Türkei gewährt hatte. Die Entscheidung, sich aus dem Projekt zurückzuziehen, wurde gemeinsam mit den Regierungen von Österreich und der Schweiz getroffen. Durch das Staudammprojekt stand zu befürchten, dass mindestens 55000 Menschen umgesiedelt werden müssten. Die geplanten Umsiedlungsmaßnahmen entsprachen jedoch nicht den internationalen Menschenrechtsstandards.

Internationale Menschenrechtsverträge

Trotz der Ankündigung der Regierung, das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu unterzeichnen und zu ratifizieren, war dies Ende 2009 noch nicht geschehen.

Auch das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels hatte die Regierung Ende 2009 noch nicht ratifiziert. Deutschland war nach wie vor ein Ziel- und Transitland für den Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung.

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