Aktuell 19. September 2022

Über die Beziehung von Sport und Menschenrechten

Ein Fußball liegt auf der Flagge Katars. Auf dem Fußball sind Fotos abgedruckt, die Bauarbeiter und Hausangestellte bei ihrer Arbeit oder in ihren Unterkünften zeigen.

Ausbeutung in Katar: Im Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 werden die Rechte von ausländischen Hausangestellten und ausländischen Arbeitskräften im Baugewerbe noch immer verletzt.

Rede von Amnesty-Generalsekretär Markus N. Beeko auf der DFB-Konferenz "Menschenrechte: Vor, während und nach der WM in Katar" am 19. September 2022

Sehr verehrte Teilnehmer*innen,

vielen Dank für die Möglichkeit einen Blick auf die Beziehung von Sport und Menschenrechten zu richten.

"Sport und Menschenrechte" – das ist ein Begriffspaar, das historisch lange nicht zusammen zu passen schien; ein Begriffspaar, das in der Vergangenheit eher selten zusammen genannt wurde – und offensichtlich selten zusammen gedacht wurde.

Warum eigentlich nicht?

Ging es im Sport nicht doch auch eigentlich immer schon um mehr als nur "höher, schneller, weiter"? Ging es nicht auch immer um Größeres? Um Gemeinschaft, um Egalität, um Sportsgeist, um Fairplay?

So bestimmte Pierre de Coubertin, Initiator der Olympischen Spiele der Neuzeit, bei der Gründung des IOCs, in der Olympischen Charta als Ziel der olympischen Bewegung:

"Ziel des Olympismus ist es, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist."

Das klingt doch fast wie das für uns alle grundlegende Selbstverständnis, wie wir es in Artikel 1, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes ausdrücken, wo es heißt: "... deshalb bekennen wir uns zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt".

Und die Olympische Charta bezieht sich mit ihrem 4. Grundprinzip weiter ausdrücklich auf die Menschenrechte: "Die Ausübung von Sport ist ein Menschenrecht".

Und – haben Sport und Menschenrechte nicht noch viel mehr Grundsätzliches gemeinsam? Der Sport, der keinen Unterschied machen soll und will, nicht nach Nationalität, nicht nach Sprache, nicht nach Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung?

Wie die Menschenrechte, die jeder und jedem von uns garantieren, dass wir alle frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind (Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte); dass wir alle frei sind zu sagen, was wir denken (Artikel 19); frei sind, zu lieben, wen wir wollen oder zu heiraten, wen wir lieben; dass "niemand in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden darf" (Artikel 4), oder wir alle das Recht haben, zum Schutz eigener Interessen Gewerkschaften zu gründen (Artikel 23) oder das Recht haben, jedes Land zu verlassen und in das eigene Land zurück zu kehren (Artikel 13).

Das Bild zeigt eine Porträt von Markus N. Beeko

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland

Der Sport lebt von Fairplay, von der Einhaltung von gemeinsam respektierten Regeln - von dem Reglement, ohne dass Sport und Spiel nicht möglich sind. Mit Schiedsrichtern, Punktrichtern, Schiedsstellen und klaren Sanktionen bei Regelverstößen.

Wie die Menschenrechte, die in einem internationalen völkerrechtlichen Regelwerk fest verankert sind, über die Menschenrechtscharta, den UN-Pakt für bürgerliche und politische Rechte, den UN-Sozialpakt und andere Kernabkommen. Und auf deren Achtung wir uns alle berufen können dürfen.

Wie kommt es, dass "Sport und Menschenrechte" dennoch bislang kein "Traumpaar" abgeben? Wie kommt es, dass zwischen Anspruch des Sports und Wirklichkeit bislang so oft eine so große Lücke klafft?

Warum fallen Menschen im Zusammenhang mit Sportgroßveranstaltungen eher Menschenrechtsverletzungen als die Achtung der Menschenrechte ein?

Und damit sind wir bei einer der zentralen Fragen für die Verantwortung des Sports für die Menschenrechte: Sind die internationalen Sportverbände in der Lage, …

a) Sportgroßveranstaltungen in Ländern sicherzustellen, die bereit sind, sich ihrer Verantwortung für die Achtung und den Schutz der Menschenrechte zu stellen?

b) diese Veranstaltungen so auszurichten, dass sie menschenrechtskonform stattfinden?

Die "Sports and Rights Alliance", ein Zusammenschluss von Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften schaut dabei besonders auf zwei Aspekte:

1. Die wiederholte politische Instrumentalisierung des Sports zur Verdeckung von Menschenrechtsverletzungen

Ich war elf Jahre alt, als die Fussball-WM 1978 in Argentinien stattfand und Jorge Videla, der Chef der damaligen Militärdiktatur, in seiner Eröffnungsrede den "Frieden für alle Menschen und die ganze Welt" beschwor – während Amnesty International dokumentieren musste, wie zu dieser Zeit tausende Menschen im Land verfolgt, entführt und gefoltert wurden. Das Stadion, in dem das Endspiel stattfand, lag nur fußläufig vom berüchtigten Folterzentrum ESMA entfernt.

Als gut 40 Jahre später, im Januar 2021, die Rallye Paris-Dakar durch Saudi-Arabien führte, verlief die Rennstrecke südwestlich der Hauptstadt Riad, vorbei unweit des Gefängnisses Al-Ha’ir. Dort war zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren die Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul inhaftiert und wurde gefoltert, allein weil sie sich für Frauenrechte und – gegen das damals noch geltende Fahrverbot für Frauen eingesetzt hatte. 

Im Februar dieses Jahres 2022 feierte die chinesische Regierung mit den Olympischen Winterspielen ein großes Sportfest, ungeachtet der Tatsache, dass die Weltöffentlichkeit wusste, dass in der Provinz Xinjiang weiter brutal und systematisch gegen Hunderttausende internierte und überwachte Uigur*innen und andere Minderheiten vorgegangen wird.

Die Aufzählung ließe sich vielfältig fortführen.

Aber es scheint sich etwas zu bewegen.

Die diesjährigen Spiele in Peking haben auch gezeigt, dass mehr und mehr Menschen die fehlende Berücksichtigung von Menschenrechten im globalen Sport aufstößt. Neben Menschenrechtsorganisationen hinterfragen auch Fans, Medien und Sportler*innen, die Vergabepraxis großer internationaler Sportverbände, die die Einhaltung der Menschenrechte nicht berücksichtigt. Sie fordern Transparenz, Wahrhaftigkeit und Verantwortung ein.

Aber Menschenrechtsorganisationen haben nicht nur seit vielen Jahren kritisiert, dass Regierungen, die verantwortlich für schwere systematische Menschenrechtsverletzungen sind, immer wieder Gelegenheit gegeben wird, Groß-Events zu nutzen, um von der Menschenrechtslage in ihrem Land abzulenken.

Amnesty International, Human Rights Watch, Gewerkschaften und andere NGOs, die sich seit 2015 in der "Sport and Rights Alliance" zusammengeschlossen haben, lenken ebenso den Blick darauf, dass es auch im direkten Zusammenhang mit Sportgroßveranstaltungen immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen kommt.

2. Und das bringt mich zum zweiten Aspekt, dem für die Achtung und den Schutz der Menschenrechte im Sport mehr Aufmerksamkeit zu teil werden muss:

Die bislang fehlende Wahrnehmung der eigenen menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht durch den Sport.

Das Bild zeigt das Innere eines Fußballstadion, im Vordergrund die Silhouetten mehrere Bauarbeiter, die ein Baugerüst abbauen

Bauarbeiten am Al-Bayt-Fußballstadion, das für die Fußball-WM 2022 in der Nähe der katarischen Hauptstadt Doha errichtet wird (April 2019).

Die strukturellen Verletzungen der Rechte von Frauen, LGBTQI und Arbeitsmigrant*innen waren bei der WM-Vergabe an Katar durch die FIFA hinlänglich bekannt. Es war kein Geheimnis, dass in Katar die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt ist; kein Geheimnis, dass man nicht lieben darf, wen man will; das Frauenrechte durch Vormundschaft eingeschränkt werden und das ausländische Arbeitnehmer*innen das Recht Gewerkschaften zu gründen, verwehrt wird; und auch, dass das Recht selbstbestimmt das Land zu verlassen und ins eigene zurück zu kehren für Hunderttausende von Arbeitsmigrant*innen nicht selbstverständlich war. Dennoch wurde die WM-Vergabe an Katar an keinerlei Bedingungen zum Schutz der Menschenrechte geknüpft.

Nachdem die FIFA im Vorfeld der WM-Vergabe an Katar versäumt hatte, sich mit der allgemeinen Menschenrechtslage und den absehbaren Menschenrechtsverletzungen an Arbeitnehmer*innen auf den mit der WM verbundenen Bauprojekten auseinanderzusetzen, brauchte sie weitere fünf Jahre, um Bedenken wegen der Menschenrechtssituation mit dem katarischen Organisationskomittee aufzunehmen.

Die FIFA brauchte bis 2017, um endlich eine eigene Human Rights Policy zu verabschieden. Auch in den Statuten des Weltfußballverbandes heißt es nun seit 2016 unter anderem: "Die FIFA bekennt sich zur Einhaltung aller international anerkannten Menschenrechte und setzt sich für den Schutz dieser Rechte ein." Damit hat die FIFA sich zumindest formal endlich zu dem bekannt, was der Dreh- und Angelpunkt der menschenrechtlichen Verantwortung der internationalen Sportverbände wie FIFA und IOC ist und sein muss: die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die 2011 vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedet wurden.

Den UN-Leitprinzipien zufolge müssen Unternehmen sorgfältig prüfen, welche menschenrechtlichen Risiken sich aus ihrer Geschäftstätigkeit ergeben und aktiv werden, wenn sie Risiken oder konkrete Menschenrechtsverletzungen feststellen. Sie müssen dann Abhilfe schaffen und auch ggf. für Entschädigung sorgen.

Dem ist die FIFA im Hinblick auf Katar bislang nicht ausreichend gerecht geworden. Vor zehn Tagen hat nun – ich darf sagen – sogar das IOC einen "Strategischen Rahmenplan zu den Menschenrechten" verabschiedet.

Beginnen die großen Institutionen des globalen Sports langsam zu verstehen? Oder glauben sie mit diesen formalen Schritten das Handeln noch herauszögern zu können?

Es wird – um von diesen Erklärungen zum konkreten Handeln, zur konkreten Achtung der Menschenrechte und dem Einsatz für Betroffene zu kommen – weiter das Engagement von Menschenrechtsorganisationen, Fans, Sportler*innen, Medien, Öffentlichkeit, Regierungen und Sponsoren brauchen.

Was es jetzt braucht für die zukünftige Traumpartnerschaft von "Sport und Menschenrechten":

1. Ab sofort muss für die Vergabe von Sportgroßereignissen gelten:

Die Sportverbände müssen die Kriterien und Praxis bei der Vergabe von sportlichen Großevents verbindlich an menschenrechtlichen Standards ausrichten. Drei Punkte sind dabei besonders zu beachten:

Erstens müssen die Verbände zu Beginn des Vergabeverfahrens die menschenrechtlichen Risiken umfassend erfassen.

Zweitens müssen sie Betroffenengruppen beteiligen und gemeinsam mit ihnen Maßnahmen entwickeln, wie Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit einem Sportevent verhindert werden können.

Drittens müssen die Verbände dafür sorgen, dass den Betroffenen Rechtshilfe und leicht zugängliche Beschwerdeverfahren zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich Gehör verschaffen können.

2. Es braucht konkrete und praktische Verantwortungsübernahme durch große Sportverbände:

Die in den UN Guiding Principles festgelegten menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten müssen zur verbindlichen Praxis in der praktischen Umsetzung werden und auch die Grundsätze der Entschädigung von Betroffenen Anwendung finden. (Hierzu können im Übrigen Nachschärfungen des Nationalen Aktionsplans für Wirtschaft und Menschenrechte, aber insbesondere das EU-Lieferkettengesetz beitragen.)

Die FIFA kann und muss nun Versäumtes mit der WM in Katar nachholen und einen Anfang machen:

Deshalb fordern Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen von der FIFA und der katarischen Regierung, ein Entschädigungssystem für die hunderttausenden Arbeiter*innen (und ihre Angehörigen) einzurichten, die an Projekten für die Weltmeisterschaft beteiligt sind bzw. waren.

Weder bei der FIFA (noch bei Katar), scheitert es am Geld – sondern bislang allein am guten Willen. FIFA und Katar müssen endlich das Entschädigungsprogramm auf den Weg bringen.

Zudem muss sich die FIFA mit Nachdruck dafür einsetzen, dass in Katar ein Zentrum für Arbeitsmigrant*innen entsteht, das als unabhängige Anlaufstelle für Unterstützung, Vernetzung, Information und Beschwerden fungieren kann und über die WM hinaus Bestand hat.

Sehr geehrter Herr Neundorf,

der DFB hat sich richtigerweise in den vergangenen Jahren mit seiner menschenrechtlichen Verantwortung und mit der DFB Human Rights Policy beschäftigt.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie sich gerade eben erneut klar für die Einrichtung eines Entschädigungsprogramms durch die FIFA ausgesprochen haben. Es braucht, dass sich der DFB deutlich vernehmbar hinter die Forderungen nach Entschädigung von Betroffenen stellt und gemeinsam mit anderen Verbänden bei der FIFA Druck dafür macht.

Nicht zuletzt stehen auch die WM-Sponsoren in der Pflicht, ihren Einfluss auf die FIFA zu nutzen und sich für einen Hilfsfonds einzusetzen.

Es ist an der Zeit die Opfer, die betroffenen Arbeitnehmer*innen in den Blick zu nehmen und sie bzw. ihre Angehörigen für die ihnen zuteil gewordenen Menschenrechtsverletzungen zu entschädigen. Das erwarten auch Fans, Spieler*innen und eine immer größer werdende Öffentlichkeit.

Auf die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der WM in Katar braucht auch der Sport Antworten, die über dieses Turnier hinausweisen. Verbände und Sponsoren sollten das Momentum jetzt nutzen, um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten:

Der internationale Sport muss nicht länger Teil des Problems sein, sondern kann mit allen Kräften danach streben, ein Teil der Lösung zu werden – und für die Zukunft eindeutig die Frage beantworten, ob er internationale Sportgroßveranstaltungen unter Achtung und Einhaltung der Menschenrechte ausrichten kann.

Alles andere hat im Jahre 2022 keinen Platz in dieser Welt. Ich glaube, sportbegeisterte Menschen in aller Welt zählen darauf.

Vielen Dank.

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