Aktuell 25. März 2015

Amnesty Journal April 2015

Amnesty Journal April 2015
Gefangen im Netz: Zur digitalen Massenüberwachung

Digitale Spuren im Netz. Die Nutzer zahlen mit ihren Daten

Die digitale Massenüberwachung verletzt die Privatsphäre und gefährdet die Meinungsfreiheit. Im digitalen Zeitalter wird Amnesty künftig verstärkt darauf achten, dass die Menschenrechte online wie offline den gleichen Schutz ­genießen.

Von Steffen Härting, Marco Kühnel und ­Sebastian Schweda

Saeed Al-Shehabi, Moosa Abd-Ali Ali und Jaafar Al Hasabi setzten sich in ihrem Heimatland Bahrain für mehr Demokratie ein. Nachdem sie dort bedroht wurden und Repressionen ausgesetzt waren, fanden die Aktivisten Asyl in Großbritannien. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation "Bahrain Watch" kontrollierte der bahrainische Staat aber weiterhin mit Hilfe der Spionagesoftware "FinFisher" ihre Computer – und damit auch ihre Privatsphäre. Von ähnlichen Ausspähversuchen berichteten auch äthiopische Flüchtlinge in Großbritannien und den USA.

In Pakistan, Jemen oder Somalia nutzen die USA Standort­daten von Mobilfunkgeräten aus Überwachungsdatenbanken der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste NSA und GCHQ, um Drohnenangriffe gegen Zielpersonen mit vermeintlich terroristischen Absichten zu fliegen. Bereits 2013 kritisierte Amnesty in einem Bericht über Drohnenangriffe in Pakistan, dass diesen Angriffen wegen der Ungenauigkeit der Daten immer wieder auch völlig Unschuldige zum Opfer fallen.

Es ist unbestritten, dass digitale Technologien erhebliche Chancen für den Schutz der Menschenrechte eröffnet haben. ­Ereignisse wie der "Arabische Frühling" hätten ohne soziale Netzwerke so nicht stattgefunden. Whistleblower wie Chelsea Manning oder Edward Snowden hätten nicht diese gigantischen Informationsmengen enthüllen können. Ihr Beispiel zeigt aber zugleich, dass diese Technologien Regierungen auch dabei helfen, Menschenrechtsverletzungen zu begehen.

Die Digitalisierung wird oft als neue industrielle Revolution bezeichnet. Denn sie betrifft nicht nur den heimischen Computer oder dient der Vereinfachung der Verwaltung, sondern bestimmt zunehmend wesentliche Teile unseres Lebens. Bis vor ­einigen Jahrzehnten füllten Computer ganze Räume von Unternehmen oder Forschungsinstituten. Mit der technischen Entwicklung wurden sie jedoch kleiner und finden sich heutzutage in immer mehr Alltagsgegenständen wie Uhren, Mobiltelefonen, Unterhaltungselektronik, Haushaltsgeräten, Fahrzeugen und sogar Kleidung. Viele dieser Geräte sind mit dem Internet verbunden, etwa um die heimische Zentralheizung fernzusteuern, aber immer mehr auch, um Nutzungsdaten zentral zu sammeln und zu verarbeiten. Die Geräte werden so zu Sensoren, die unbemerkt Daten über das Verhalten ihrer Besitzer sammeln.

Auch soziale Netzwerke und E-Mail-Anbieter beobachten ihre Kunden und erstellen Konsumentenprofile, um zielgerichtete Werbung anzuzeigen. Der Nutzer mag den Eindruck gewinnen, er erhalte im Internet angebotene Dienste kostenlos. In Wirklichkeit zahlt er jedoch mit seinen Daten. Sie stellen für die Dienstanbieter eine Art Zwischenwährung dar: Je mehr ein Werbetreibender über den Adressaten weiß, desto zielgerichteter kann er den Nutzer ansprechen und desto mehr wird er bereit sein, für das Schalten einer Werbefläche zu bezahlen. In einer kürzlich veröffentlichen Studie wurde die Treffergenauigkeit eines Algorithmus untersucht, der anhand von Facebook-"Likes", d.h. von positiven Bewertungen von Produkten, die Persönlichkeit der Nutzer einschätzen sollte. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei den untersuchten Nutzern die Einschätzung, die der Algorithmus traf, im Durchschnitt nach zehn "Likes" bereits zutreffender war als die eines Kollegen, nach 300 "Likes" entsprach sie der Einschätzung des Lebenspartners.

Doch auch wer keinen Computer nutzt, hinterlässt "digitale Spuren": im Finanzamt, beim Telefonanbieter, bei der Post, bei Banken, bei Supermärkten und in anderen Geschäften, in Videoüberwachungen oder auch im Facebook-Konto von Freunden. Diese Informationsschnipsel werden ebenfalls zu Profilen ver­arbeitet: Politische Gesinnung, sexuelle Präferenzen, Lebensstil, sozialer Umgang, Bildungsgrad, Vernetzung und potenzielle Straffälligkeit des Individuums werden so vermeintlich berechenbar.

Die statistische Natur der Algorithmen ist dabei nicht die einzige Fehlerquelle. So wurde kürzlich ein Niederländer bei der Einreise in die USA stundenlang befragt und bekam später noch einmal Polizeibesuch, weil er sein Visum angeblich von einer jordanischen Internetadresse aus beantragt und gleichzeitig angegeben hatte, niemals in arabischen Ländern gewesen zu sein. Dann stellte sich heraus: Die Datenbank der US-Behörde war veraltet und die vormals jordanische Adresse war inzwischen einem niederländischen Netz zugewiesen worden.

Die Enthüllungen von Edward Snowden belegen, was noch vor einigen Jahren als Verschwörungstheorie abgetan worden wäre: dass eine umfassende Speicherung und Auswertung von Kommunikationsdaten auch durch den Staat bereits seit Jahren praktiziert wird – unter Ausnutzung und oft auch mit Hilfe großer Internetfirmen. Werden persönliche Daten aber ohne konkreten Zweck "auf Vorrat" erfasst und verknüpft, stellt das einen schweren Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar, das unter anderem von Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert wird. Eine Einschränkung des Rechts auf Privatsphäre muss auf gesetzlicher Grundlage erfolgen und darf auch nicht willkürlich sein.

Schon allein wegen ihrer Anlasslosigkeit ist Massenüberwachung daher inakzeptabel. Darüber hinaus wirkt sie einschüchternd auf eine Gesellschaft und schränkt andere Rechte wie z.B. das auf freie Meinungsäußerung ein. Nach einer Umfrage des Schriftstellerverbands "PEN America" vermeidet ein Drittel der befragten Schriftsteller seit den Snowden-Enthüllungen bewusst bestimmte Themen in der elektronischen Kommunikation oder erwägt dies ernsthaft. Einschüchternd wirkt dabei nicht nur die Überwachung selbst, sondern auch ihr rechtlich diffuser Charakter: Die Kriterien für die Auswahl verdächtiger Kommunikation sind oft nicht bekannt und eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit nicht vorgesehen.

"Sehr geehrter Empfänger, Sie wurden als Teilnehmer einer Massenunruhe registriert."

Der ungerechtfertigte Eingriff in die Privatsphäre durch staatliche Überwachung erfolgt nach drei Mustern: Das erste ist die gezielte Überwachung von Personen mit digitalen Mitteln, wie im Fall der bahrainischen Aktivisten. Umfassender ist die Überwachung einer großen Anzahl von nicht persönlich identifizierten Menschen, wie zum Beispiel im Fall der Ukraine: Während der Maidan-Proteste im Jahr 2014 erhielten Handys, die in der Nähe der Kundgebungen geortet wurden, eine SMS, in der es hieß: "Sehr geehrter Empfänger, Sie wurden als Teilnehmer einer Massenunruhe registriert." Deutlicher kann man den Einschüchterungscharakter von Überwachung nicht machen. Die Snowden-Enthüllungen haben eine noch weitergehende Dimension gezeigt: die massenhafte Überwachung eines erheblichen Teils der weltweiten Kommunikation ohne konkreten Anlass.

Sich gegen einen so totalen Eingriff in ein Menschenrecht zu wehren, ist für den Einzelnen nahezu unmöglich. Aber auch Staaten kommen hier in einer global vernetzten Welt an ihre Grenzen. Die Verteidigung der Menschenrechte – und insbesondere des Rechts auf Privatsphäre – im digitalen Zeitalter ist daher auch eine Aufgabe der Vereinten Nationen: Der UNO-Menschenrechtsrat stellte in einer Resolution vom 5. Juli 2012 fest, dass "die gleichen Rechte, die Menschen offline haben, auch ­online geschützt werden müssen" und äußerte damit nicht nur eine banale Wahrheit, sondern wies auch auf eine weit klaffende Lücke im weltweiten Menschenrechtsschutz hin, die sich im Zuge der Digitalisierung ergeben hat. In zahlreichen Dokumenten haben sich seitdem unterschiedliche UNO-Menschenrechtsorgane wie der Menschenrechtsrat, der Hochkommissar für Menschenrechte, der Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit und der Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Kampf gegen Terrorismus mit den menschenrechtlichen Folgen der Massenüberwachung auseinandergesetzt.

Auch Amnesty hat die Arbeit zu diesem Thema zu einer ­zentralen Aufgabe erklärt und fordert, alle bestehenden Programme zur anlasslosen Massenüberwachung unverzüglich zu beenden. Die Regierungen müssen sicherstellen, dass Überwachungsmaßnahmen internationale Menschenrechtsstandards einhalten. Das bedeutet auch, dass Überwachung nur zielgerichtet und auf der Grundlage ausreichender Anhaltspunkte für Rechtsverstöße erfolgen darf. Amnesty wird sich künftig verstärkt dafür einsetzen, dass die Menschenrechte im digitalen Zeitalter online wie off­line den gleichen Schutz genießen.

Die Autoren sind Mitglieder der Themengruppe "Menschenrechte im digitalen Zeitalter" der deutschen Amnesty-Sektion.

Hintergrund: Massenüberwachung und Menschenrechte
Anlasslose Massenüberwachung ist immer ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatsphäre. Ihre möglichen ­Folgen sind Zensur und Selbstzensur, eine Gefährdung der Meinungs- und Informationsfreiheit. Außerdem hält sie Menschen von der Teilnahme an friedlichen Versammlungen ab und verletzt so das Recht auf Versammlungsfreiheit. Einschränkungen des Internetzugangs und Verschlüsselungsverbote stehen im Widerspruch zum Recht auf Bildung und Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt. Daher wird Amnesty sich in den kommenden Jahren mit den folgenden Themen beschäftigen: Kommunikationsüberwachung, insbesondere Massenüberwachung, die Verdatung der Gesellschaft ("Big Data", "Profiling"), ­Verschlüsselung und Anonymität, "Internet Governance" sowie Internetzugang und Netzneutralität.

Unterstützen Sie unsere Online-Petition und fordern Sie Angela Merkel dazu auf, das Menschenrecht auf Privatsphäre zu schützen!

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