Aktuell Syrien 06. Juli 2011

Syrien: Exzessive Gewalt in Tell Kalakh

Hinweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Majd al-Kurdy war Häftling in Tell Kalakh - dabei wurde er misshandelt und in die Hand geschossen.

Majd al-Kurdy war Häftling in Tell Kalakh - dabei wurde er misshandelt und in die Hand geschossen.

6. Juli 2011 - Amnesty International veröffentlicht in dem aktuellen Bericht "Crackdown in Syria: Terror in Tell Kalakh" Hinweise, dass im Rahmen einer groß angelegten und systematischen Operation der syrischen Sicherheitskräfte in der Stadt Tell Kalakh Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden.

Der Bericht dokumentiert Zeugenaussagen über Todesfälle in Gewahrsam, Folter und willkürliche Verhaftungen seit dem 14. Mai, nachdem die Armee und Sicherheitskräfte in der west-syrischen Stadt in der Nähe zum Libanon einmarschiert waren, um Demonstrationen zum Sturz der syrischen Regierung niederzuschlagen.

Systematische Gewalt gegen die freie Meinungsäußerung

"Die Schilderungen, die wir von Zeugen über die Ereignisse in Tell Kalakh gehört haben, zeichnen ein zutiefst verstörendes Bild systematischer und gezielter Gewalt, um die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken," sagte Philip Luther, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher und Mittlerer Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

Am ersten Tag der Operation wurde der 24-jährige Ali al-Basha vermutlich durch Heckenschützen getötet und sogar der Krankenwagen, der ihn beförderte, beschossen. Auch viele Familien, die versuchten zu fliehen, wurden von den syrischen Sicherheitskräften beschossen.

In den folgenden Tagen wurden Dutzende männliche Einwohner – auch über 60- und unter 18-jährige – zusammengetrieben und inhaftiert. Jede Familie aus Tell Kalakh, die Amnesty International im Libanon getroffen hat, sagte, mindestens einer ihrer Verwandten befände sich im Gewahrsam der Sicherheitskräfte.

Häftlinge werden grausam gefoltert

Die meisten Festgenommenen wurden laut Zeugenaussagen gefoltert. In einem Fall sollen Soldaten die Männer in ihrem Transportfahrzeug gezählt haben, indem sie bei jedem eine glühend Zigarette im Nacken ausdrückten.

Der militärische Geheimdienst soll die Menschen immer wieder mit der "Shabah"(Geist-)-Methode gefoltert haben. Dabei muss ein Gefangener lange Zeit und unter Schlägen in schmerzhafter Position verharren. In den berichteten Fällen wurden die Gefangenen mit den Handgelenken an einer so hoch hängenden Stange festgebunden, dass sie nur noch auf den Zehenspitzen stehen konnten.

Der 20-jährige "Mahmoud", der am 16. Mai 2011 festgenommen und erst nach einem knappen Monat wieder freikam, wurde etwa fünf Tage in der Haftanstalt des militärischen Geheimdienstes in Homs festgehalten: "Jeden Tag [passierte] das gleiche. Sie banden mich in der Shabah-Position fest und versetzten mir elektrische Schläge an meinem Körper und meinen Hoden. Manchmal schrie ich sehr laut und bat den Vernehmungsbeamten aufzuhören. Aber es war ihm egal."

Augenzeugenberichten zufolge starben mindestens neun Personen in Gewahrsam, nachdem sie in Tell Kalakh festgenommen worden waren. Acht dieser Männer – von denen einige aktiv an den Demonstrationen teilgenommen haben – waren durch Schüsse verletzt worden, nachdem Soldaten ihnen befohlen hatten, ein Haus zu verlassen.

Tod in Gewahrsam soll vertuscht werden

Erst zwei Wochen später wurden die Verwandten zu einem Militärkrankenhaus gerufen, um die Leichen der acht Männer zu identifizieren. Zeugen sagten, die Körper hätten Verletzungen aufgewiesen, die auf Folter schließen ließen, darunter auch Schnitte auf der Brust, lange vertikale Striemen auf den Oberschenkeln und augenscheinliche Wunden von Gewehrschüssen auf der Rückseite der Beine.

Manche Eltern, die die Leichen ihrer Söhne identifizieren sollten, sagten, sie hätten eine Aussage unterschreiben müssen, dass ihre Söhne von bewaffneten Banden getötet worden seien.

Ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof

"Die meisten der in diesem Bericht beschriebenen Verbrechen würden unter die Rechtssprechung des Internationalen Strafgerichtshofes fallen. Aber zuerst muss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Lage in Syrien an den Chefankläger des Gerichts verweisen," forderte Philip Luther.

Amnesty International ruft die syrischen Behörden dazu auf, all diejenigen freizulassen, die willkürlich festgenommen und in Gewahrsam genommen wurden, nur weil sie an friedlichen Demonstrationen teilgenommen oder ihre Meinung geäußert haben. Darüber hinaus müssen die syrischen Behörden den Ermittlern der Vereinten Nationen, die die Menschenrechtssituation in Syrien untersuchen sollen, ungehinderten Zugang zum Land garantieren.

"Die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, im Namen der Menschenrechte in Libyen einzugreifen, offenbart die Doppelstandards, wenn es um Syrien geht", sagte Philip Luther. "Trotz der Rede von Präsident Bashar al-Assad über Reformen gibt es wenig Hinweise darauf, dass die syrischen Behörden auf irgendetwas anderes reagieren werden, als auf konkrete internationale Maßnahmen."

Da es Amnesty International nicht gestattet war, nach Syrien einzureisen, konnten die Interviews, auf denen die Ergebnisse dieses Berichts basieren, nur mit Zeuginnen und Zeugen im Libanon und per Telefon geführt werden.

Den vollständigen Bericht können Sie hier auf englisch nachlesen.
Vollständiger Bericht auf arabisch

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